Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogan sieht Urheber in Syrien

Nach Attentat beschuldigt Türkei eine linke Gruppe und Assads Geheimdienst

Von Jan Keetman *

Zwei Tage nach dem Doppelanschlag in der türkischen Grenzstadt Reyhanli haben Bergungsmannschaften weitere Opfer gefunden. Die Zahl der Getöteten sei damit auf 49 gestiegen, berichtete der Sender CNN Türk am Montag. Türkische Medien berichten inzwischen von einer »linksextremistischen« Täterschaft.

Der Doppelanschlag in der türkischen Grenzstadt Reyhanli soll von türkischen Linksradikalen mit Kontakten nach Syrien verübt worden sein. Bei den neun am Sonntag festgenommenen Beschuldigten handele es sich um Mitglieder der »Revolutionären Volksbefreiungspartei/-front«, berichteten türkische Medien am Montag. Die türkische Regierung wirft ihnen vor, die Tat in Abstimmung mit dem syrischen Geheimdienst verübt zu haben. Auch der Sprengstoff soll aus Syrien gekommen sein.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte laut dpa, er habe keine Zweifel mehr an »einer Verantwortung des syrischen Regimes« für den blutigen Doppelanschlag in Reyhanli. Sein Land werde auf die Tat zu gegebener Zeit reagieren, zitierten ihn türkische Medien am Montag. »Hinter dieser Tat steckt das Regime. Das ist gewiss«, sagte Erdogan demnach.

Bereits am Vortag hatte die türkische Regierung auf einer Pressekonferenz in Ankara den syrischen Geheimdienst für die Anschläge verantwortlich gemacht. Der stellvertretende Ministerpräsident Besir Atalay sprach von einer »bekannten« Gruppe innerhalb der Türkei, die in Beziehung zum syrischen Geheimdienst stehe und die Anschläge ausgeführt habe. Bülent Arinc, ein weiterer Stellvertreter von Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, hatte Syrien bereits vorher mit Vergeltung gedroht, falls es sich herausstelle, dass dessen Präsident Baschar al-Assad für den Anschlag verantwortlich sei. Erdogan selbst hatte zunächst Feinde des Friedensprozesses mit der PKK für den Anschlag verantwortlich gemacht und damit die Schuld indirekt seinen innenpolitischen Gegnern aufs Konto geschrieben.

Tatsächlich wirkt der Anschlag wie eine inszenierte Illustration zu Assads Vorhersage, ein Eingreifen in Syrien werde die ganze Region in den Krieg mit hineinziehen. Einen Tag vor dem Anschlag hatte Erdogan Assad im US-Sender NBC vorgeworfen, Giftgas eingesetzt zu haben. Auf Nachfrage hatte Erdogan erklärt, Assad habe seit langem die rote Linie überschritten, die ihm US-Präsident Barack Obama gezogen hatte.

Die syrische Spur gibt der türkischen Opposition Gelegenheit, Erdogans Syrienpolitik zu attackieren. Der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei Gürsel Tekin forderte Erdogan auf, seine Syrienpolitik sofort zu ändern, die Unterstützung der syrischen Rebellen aufzugeben. Erdogan drehe den Ausspruch von Atatürk, dem Staatsgründer der modernen Türkei, »Frieden zu Hause, Frieden in der Welt« um, wenn er zu Hause mit der PKK Frieden mache, aber die Türkei in einen Krieg mit Syrien ziehe. »Wenn das eine Auge weint, kann das andere nicht lachen«, sagte Tekin.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. Mai 2013


Erdogans Verschwörung

Türkische Regierung macht linke Organisationen für Bombenanschläge in Reyhanli verantwortlich. Bei der Bevölkerung im syrischen Grenzgebiet verfängt die Kriegspropaganda nicht

Von Nick Brauns **


Zwei Tage nach den Autobombenanschlägen in der türkischen Grenzstadt Reyhanli präsentiert die türkische Regierung ein wildes Verschwörungsszenario. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Montag vor der Presse, es sei nun klar, daß die Attentate auf das Konto der syrischen Regierung gingen. Die Anschläge seien durch deren »verlängerten Arme« in der Türkei ausgeführt worden. Demnach sollen türkischstämmige Linksradikale mit Verbindungen zum syrischen Geheimdienst für die Anschläge verantwortlich sein, bei denen am Samstag 49 Menschen getötet und 140 verletzt wurden. Über türkische Medien wurde eine Pressesperre zu den Anschlägen in der Provinz Hatay verhängt, bei Zuwiderhandlung drohen langjährige Haftstrafen

Wie trotz völliger Pressezensur Montag früh aus Polizeiquellen durchsickerte, sollen fünf der am Sonntag Festgenommenen der antiimperialistischen »Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front« (DHKP-C) und vier der »Türkischen Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C) Acilciler« (»Die Eiligen«) angehören. Gegen die antiimperialistische DHKP-C, die Anfang Februar einen Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Ankara begangen hatte, gab es in diesem Jahr bereits mehrere großangelegte Polizeioperationen, bei denen auch zahlreiche Künstler, Gewerkschafter und Rechtsanwälte verhaftet wurden (jW berichtete).

Die marxistisch-leninistische Splittergruppe »Acilciler« war dagegen seit Anfang der 80er Jahren nicht mehr in der Türkei aktiv. Ihr Anführer Mihrac Ural war nach dem Militärputsch von 1980 nach Syrien geflohen, hatte die syrische Staatsbürgerschaft erhalten und soll dort jetzt eine regimetreue Miliz namens »Syrischer Widerstand« befehligen. Laut der türkischen Tageszeitung Sabah soll diese Miliz die Verantwortung für ein Massaker an 62 Sunniten in der Küstenstadt Banias tragen. Gegenüber dem Nachrichtenportal Spiegel Online ließ Ural dies dementieren. Die Aufgabe seiner Truppe sei es, das Einsickern ausländischer Dschihaddisten nach Syrien zu verhindern. Türkische Sicherheitskräfte beschuldigen Ural, der der alawitischen Religionsgemeinschaft angehört, im vergangenen Jahr Proteste unter Alawiten in Hatay gegen die türkische Syrienpolitik organisiert zu haben. Die Provinz Hatay war 1939 von der Türkei annektiert worden. Rund ein Viertel der 1,5 Millionen Einwohner sind arabische Alawiten. Viele von ihnen sympathisieren mit dem selbst dieser religiösen Minderheit angehörenden syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad.

Warum Urals Gruppe oder die DHKP-C Anschläge gegen die zum großen Teil alawitische Zivilbevölkerung von Reyhanli begehen sollen, konnten die Ermittler bislang nicht erklären. Mit dem jetzt präsentierten Szenario einer linksradikal-syrisch-alawitischen Verschwörung versucht die sunnitisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan offensichtlich, mit einem Schlag die syrische Regierung, türkische Kriegsgegner und religiöse Minderheiten im eigenen Land ins Fadenkreuz zu nehmen. So war die DHKP-C, der traditionell viele Aleviten angehören, von der regierungsnahen Tageszeitung Zaman in den letzten Wochen mit dieser Religionsgemeinschaft in Verbindung gebracht worden. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien wächst das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den arabischen Alawiten und den Aleviten, die rund ein Viertel der Bevölkerung in der Türkei stellen und Diskriminierung durch die sunnitische AKP-Politik beklagen.

Nicht durch die Kriegspropagandalügen der Regierung abspeisen ließen sich am Sonntag abend die Fans des Istanbuler Fußballvereins Fenerbahce. Beim Lokalderby gegen Galatasaray forderten sie lautstark den Rücktritt der Regierung. In Hatay beteiligten sich am Sonntag 5000 Menschen an einer Kundgebung der links­oppositionellen »Volkshäuser« gegen die AKP. Die Demonstranten riefen »USA Mörder! AKP Kollaborateure!« und forderten ein Ende der türkischen Unterstützung für die sogenannte Freie Syrische Armee. »Das Volk von Hatay möchte, daß es den Flüchtlingen gut geht. Doch wir sind dagegen, daß die Flüchtlingscamps als Militärlager genutzt werden«, erklärte die Sprecherin der Volkshäuser, Eylem Mansuroglu, gegenüber der Zeitung Hürriyet.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. Mai 2013


Syrien: Türkei für Terror verantwortlich

Regierung in Damaskus weist Anschuldigungen aus Ankara scharf zurück

Von Karin Leukefeld ***


Mit Nachdruck hat die syrische Führung den Vorwurf aus Ankara zurückgewiesen, für den doppelten Autobombenanschlag in dem türkischen Ort Reyhanli verantwortlich zu sein. Informationsminister Omran Al-Zohbi sagte am Montag, die »terroristischen Anschläge« widersprächen allen moralischen, menschlichen und juristischen Maßstäben. Syrien trauere mit den türkischen Familien, die Angehörige verloren hätten und wünsche allen Verletzten baldige Genesung. Er machte die türkische Regierung verantwortlich, weil diese es zugelassen habe, daß die Grenzregion zwischen beiden Ländern zu einem »Sammelpunkt internationaler Terroristen« geworden sei. »Türkische Wohnhäuser, Bauernhöfe und Gebäude wurden zu Zentren und Durchgangsstationen für terroristische Gruppen.«

Die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) müsse erklären, warum sie an der Zerstörung Syriens so interessiert sei, fuhr Al-Zohbi fort. Warum gebe es diese Anschläge in Reyhanli wenige Tage vor dem Treffen des türksichen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit US-Präsdident Barack Obama? Möglicherweise wolle Erdogan die Muskeln gegen Syrien spielen lassen und in Washington erklären, daß er stark genug sei, in Syrien einzumarschieren. Oder er wolle die Bemühungen der USA und der Russen unterlaufen, den Krieg in Syrien mit einer internationalen Konferenz zu beenden. Syrien habe viele Vorkommnisse in den Grenzgebieten mit der Türkei und mit Jordanien untersucht und wisse, was dort geschehe, sagte Al-Zohbi.

Mehr als einmal hat die syrische Regierung bei den Vereinten Nationen und dem UN-Sicherheitsrat Beschwerde eingelegt, weil die Türkei Lieferungen von Waffen, Sprengstoff, Autobomben, Geld und Kämpfern nach Syrien nicht unterbindet. Reporter der New York Times veröffentlichten kürzlich nach monatelangen Recherchen einen Bericht über Waffenlieferungen an die Aufständischen seit Januar 2012. Die meisten Lieferungen (85) wurden demnach von der Luftwaffe Katars von Doha nach Istanbul, Ankara, Antalya und Gaziantep geflogen. Saudi-Arabien steuerte 37 Flüge mit Kriegsgerät in die Türkei bei, Jordanien neun. Die jordanische Luftwaffe transportierte seit Beginn dieses Jahres außerdem 36mal Waffen nach Amman, von wo sie an die Grenze zum Nachbarland gebracht werden. In der Türkei werden die Waffen auf dem Landweg in das syrische Grenzgebiet geschafft.

Der Zorn der Einwohner von Reyhanli richtet sich derweil gegen die eigene Regierung, die sich an der Seite der Aufständischen in den Krieg in Syrien einmische. Die Bevölkerung habe diesen Krieg von Anfang an nicht gewollt, berichtete ein BBC-Reporter aus Reyhanli, nun müsse sie den Preis zahlen. In der türkischen Provinz Hatay (syrisch Alexandretta), die bis 1938 zu Syrien gehörte, hat es wiederholt Proteste gegen die Flüchtlinge gegeben. Im Sommer 2012 ordnete die türkische Regierung die Verlagerung einiger Flüchtlingslager nach Zentralanatolien an, um größere Spannungen mit der arabischen Bevölkerung in Hatay zu vermeiden.

Während Ankara die Terroranschläge zum Vorwand nahm, erneut eine Flugverbotszone im Norden Syriens zu fordern, möglicherweise auch ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss, warnte Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière im ARD-Magazin »Bericht aus Berlin« am Sonntag vor einem militärischen Eingreifen. Die Einflußmöglichkeiten wären »begrenzt«, eine Militärintervention wäre »sehr aufwendig und verlustreich«. Man sei »weit weg von einem UN-Sicherheitsratsmandat«. De Maizière fügte hinzu: »Irgendwelche Leute wollen den Konflikt auch eskalieren.« Die Bundesregierung hatte vor dem Anschlag die US-amerikanisch-russischen Bemühungen für eine internationale Syrienkonferenz begrüßt. Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi sagte in einem Interview mit dem Spiegel, sein Land sei jederzeit bereit, an einer solchen Konferenz teilzunehmen. Teheran plane zudem die Vermittlung von Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition in Syrien.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. Mai 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage