Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Al-Qaida droht Türkei

Islamistische Terrorgruppe aus Syrien bekennt sich zu Anschlag in Grenzstadt Reyhanli. Ultimatum an Regierung in Ankara, von der sie eigentlich unterstützt wird

Von Nick Brauns *

Rund fünf Monate nach zwei Autobombenanschlägen in der türkisch-syrischen Grenzstadt Reyhanli, bei denen über 50 Menschen getötet worden waren, hat sich die zu Al-Qaida gehörende Gruppe »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS) dazu bekannt. Das berichtete die Zeitung Zaman am Dienstag. Die türkische Regierung hatte nach den Anschlägen vom 11. Mai türkische Linksradikale und den syrischen Geheimdienst für den Terrorakt verantwortlich gemacht. Dokumente des Nachrichtendienstes der Militärpolizei, die von der linksradikalen Internetaktivistengruppe Red Hack veröffentlicht wurde, zeigten bereits damals, daß türkische Behörden von der Vorbereitung der Anschläge durch Al-Qaida in Syrien informiert waren (siehe jW vom 25. Mai und 26. August). Mit den dem syrischen Geheimdienst angelasteten Anschlägen im Vorfeld eines Treffens des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit US-Präsident Barak Obama sollte offenbar Stimmung für eine NATO-Militärintervention in Syrien geschaffen werden.

ISIS droht nun mit Anschlägen in Istanbul und Ankara, sollte die türkische Regierung die von ihren Kämpfern besetzten syrisch-türkischen Grenzübergänge bei den Städten Kilis und Cilvegözü nicht bis zum 7. Oktober wieder öffnen. Am Dienstag abend hatte die Polizei in Bursa sechs Personen festgenommen, die im Verdacht stehen, die Türkei als Umschlagplatz für Al-Qaida-Kämpfer aus Syrien und Afghanistan zu nutzen. Möglicherweise hängen die jüngsten Spannungen zwischen der islamisch-konservative AKP-Regierung und den dschihadistischen Aufständischen mit der Distanzierung von 13 syrischen Rebellengruppen von der vom Westen unterstützten syrischen Auslandsopposition zusammen. Die Al-Qaida-Verbände und Einheiten der »Freien Syrischen Armee« hatten vergangene Woche erklärt, für einen islamischen Staat in Syrien zu kämpfen.

Bislang hatte die AKP die in Syrien kämpfenden Al-Qaida-Ableger ISIS und Al-Nusra-Front allerdings im Kampf gegen die unter Führung der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) geschaffenen kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordostsyrien unterstützt. Ende September veröffentlichte die prokurdische Tageszeitung Özgür Gündem einen ihr zugespielten Brief des türkischen Innenministers Muammer Güler an den Provinzgouverneur von Hatay, der wohl auch an die Gouverneure der Grenzprovinzen Mardin, Urfa und Antep ging. In dem Schreiben vom 15. März wies Güler die Behörden an, die aus verschiedenen Ländern stammenden und unter Kontrolle des Geheimdienstes MIT stehenden Al-Nusra-Kämpfer logistisch durch die Bereitstellung von Wohn- und Trainingsmöglichkeiten zu unterstützen. Die Kämpfer sollten in Gebäuden des staatlichen Religionsamtes und vom Geheimdienst ausgewählten Wohnheimen untergebracht werden. Die Türkei »unterstützt die Al-Nusra-Mudschaheddin gegen die PYD im Einklang mit ihren regionalen Interessen«, heißt es in dem Schreiben. Wie die kurdische Agentur Firat kürzlich meldete, dient das Gebäude des Landwirtschaftsamts in der Stadt Ceylanpinar in der Provinz Urfa als Stützpunkt der Al-Nusra-Front, die von dort aus Angriffe auf die von der PYD kontrollierte syrisch-kurdischen Stadt Serekaniye starten. Auch in den vergangenen Tagen kam es an mehreren Punkten der kurdischen Siedlungsgebiete in Nordostsyrien zu schweren Gefechten zwischen ISIS-Kämpfern und kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die mehrere Dörfer von den Dschihadisten befreien konnten. Auf kurdischer Seite waren dabei einige erbeutete Panzer im Einsatz. Die zum Schutz der Bevölkerung gebildeten YPG, denen mittlerweile bis zu 20000 Kämpfer angehören sollen, umfassen neben Kurden inzwischen auch arabische Syrier und Angehörige der christlichen Minderheiten der Region. Zudem wurden eigenständige Frauenbataillone organisiert.

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. Oktober 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage