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Terror gegen Zivilisten

Konterguerilla in der türkischen Provinz Hakkari im Einsatz

Von Nick Brauns *

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat am Donnerstag der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie vorgeworfen, gemeinsam mit der Arbeiterpartei Kurdistans die Bevölkerung im Südosten des Landes im Vorfeld der Wahlen im Juni zu »provozieren«. Doch tatsächlich greift die Armee in der Provinz Hakkari zu Terror gegen die Zivilbevölkerung. So haben wachsame Passanten am Mittwoch bereits das zweite Mal innerhalb von zwei Wochen im Stadtzentrum von Yüksekova einen Bombenanschlag auf ein Einkaufszentrum verhindert. Nachdem Mitglieder der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP wütende Anwohner davon abhielten, den beim Plazieren der Bombe ertappten bewaffneten Mann zu lynchen, wurden dieser und ein Komplize, der auf die Menschenmenge geschossen hatte, von der Polizei festgenommen. Als nach dem vereitelten Anschlag ein Kind von einem Panzer angefahren und schwer verletzt wurde, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, bei denen Dutzende Menschen verletzt und ebensoviele festgenommen wurden.

Im Februar hatte eine Konterguerilla-Gruppe namens Mezit auf Flugblättern gedroht, die »PKK und ihre Kollaborateure« aus der Stadt zu vertreiben. Am folgenden Tag wurde ein erster Bombenanschlag ebenfalls durch wachsame Anwohner vereitelt, der vermummte Täter entkam unter Einsatz seiner Schußwaffe. Ende Februar patrouillierten dann vermummte Personen trotz der Anwesenheit des Militärs durch die Stadt. Der jetzt gescheiterte Anschlag sollte offensichtlich der Einschüchterung der Bevölkerung vor einer Wahlkampfkundgebung des BDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas am Donnerstag dienen. Hakkari, die ärmste Provinz der Türkei an der Grenze zu Iran und Irak, ist eine Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung, in der die prokurdischen Parteien auf Rekordwahlergebnisse von über 90 Prozent kommen. Ebensoviele Einwohner folgten einem Boykottaufruf der BDP beim Verfassungsreferendum der Regierung im vergangenen September. In den letzten Jahren sind in der Region zudem Volksräte zur Umsetzung des von PKK-Führer Abdullah Öcalan vorgeschlagenen Modells des »Demokratischen Konföderalismus« entstanden.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte im vergangenen Jahr die Losung ausgegeben, Hakkari von der PKK zu »befreien«. Schon kurz nach dieser Ankündigung starben Mitte September neun Insassen eines Kleinbusses durch einen ferngelenkten Sprengsatz. Am Tatort wurden Ausrüstungsgegenstände einer Militärspezialeinheit gefunden. Offenkundig handelte es sich um einen Racheakt, da die Getöteten aus einem Dorf kamen, das lange das staatliche Dorfschützersystem mitgetragen hatte, doch sich nun zur BDP bekannte.

Konterguerillaaktionen haben in der Provinz Hakkari eine traurige Tradition. Bereits 2005 war es zu einer Reihe von Anschlägen gekommen, bis die Bevölkerung der Kleinstadt Semdinli zwei Mitglieder des Militärgeheimdienstes und einen PKK-Überläufer nach einem Handgranatenanschlag auf eine linke Buchhandlung festhalten konnte. Der damalige Generalstabschef Yasar Büyükanit hatte die Attentäter als »seine guten Jungs, die er gut kenne«, bezeichnet und versucht, eine Strafverfolgung zu verhindern.

* Aus: junge Welt, 4. März 2011


Konterguerilla in Deutschland

Regierung bestätigt »Schattenstrukturen« türkischer Terrororganisation in der BRD

Von Nick Brauns **


Leben führende Mitglieder einer türkischen Konterguerillaorganisation unbehelligt in Deutschland? Das wollte die innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Ulla Jelpke, in einer Kleinen Anfrage von der Bundesregierung wissen.

Die sunnitische türkische Hisbollah (TH), die keinerlei Verbindungen zur gleichnamigen schiitischen Widerstandsorganisation im Libanon hat, war in den 90er Jahren vom türkischen Staat für das Vorgehen gegen Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans PKK bewaffnet worden. Ihrem Terror fielen Politiker wie der Abgeordnete Mehmet Sincar, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschafter zum Opfer. Als die TH durch die Entführung von Geschäftsleuten zunehmend unkontrollierbar wurde und Massengräber ihrer gefolterten und ermordeten Opfer entdeckt wurden, leiteten Sicherheitskräfte Ende der 90er Jahre die vorübergehende Zerschlagung der Organisation ein.

Die Bundesregierung bestätigt, daß sich eine Anzahl von TH-Mitgliedern im Jahr 2000 ihrer Verhaftung durch Flucht nach Europa entzogen und auch in Deutschland »Personennetzwerke sowie Schattenstrukturen« aufgebaut haben. In der Bundesrepublik unterhält die TH nach Erkenntnissen der Regierung heute mehrere Moscheevereine, darunter die Hamburger Vahdet Moschee, die auch Mitglied im »Schura Rat« der islamischen Gemeinschaften ist. Die Tageszeitung Die Welt hatte unter Berufung auf den US-Sicherheitsexperten Gareth Jenkins in den letzten Jahren mehrfach behauptet, die TH habe sich in den kurdischen Landesteilen der Türkei »vorwiegend von Deutschland aus neu konstituiert«, und auch die Führung der Organisation sei hier ansässig. Hier weicht die Regierung ebenso wie bei Fragen zur Anzahl von TH-Mitgliedern in Deutschland, ihren Vereinsstrukturen und möglichen Kontakten zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs einer Antwort aus. Die Antworten seien Verschlußsache (VS) – »VS-Vertraulich« bzw. »VS-Nur für den Dienstgebrauch« – verweist die Regierung auf die Geheimschutzstelle des Bundestages. Damit gibt sie zumindest indirekt zu, daß die TH in Deutschland offensichtlich mit Wissen des Verfassungsschutzes agiert.

Nach Erkenntnissen der Bundesregierung verfügt die TH in der Türkei über maximal 3500 Mitglieder. Um ihr Endziel der Errichtung eines islamischen Gottesstaates zu erreichen habe die Organisation ihre Strategie geändert und setze heute auf karitative und Propagandaktivitäten. »Nicht auszuschließen bleibt dabei, daß die TH zukünftig die Option der Gewaltanwendung wieder in Betracht zieht«, warnt die Bundesregierung. In einem solchen Fall ginge von der Organisation »ein beträchtliches Bedrohungspotential aus, da die TH auf aus der Haft entlassene ›alte Aktivisten‹ zurückgreifen kann und über straffe Organisationsstrukturen verfügt.« So wurden Anfang Januar unter dem Jubel von Tausenden Anhängern 18 hochrangige TH-Führer nach zehnjähriger Verfahrensverschleppung aus türkischer Haft entlassen. Als der Oberste Gerichtshof zwei Wochen später die erstinstanzlich im Jahr 2000 verhängten lebenslänglichen Haftstrafen wegen Mordes an 188 Menschen bestätigte, waren 16 der unter Meldeauflagen Entlassenen spurlos verschwunden. Die prokurdischen und kemalistischen Oppositionsparteien beschuldigten daher die islamisch-konservative AKP-Regierung, mit der TH zu kooperieren.

** Aus: junge Welt, 4. März 2011


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