Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kurden wählten selbstbewusst

DTP-Erfolg bei Kommunalwahlen in der Türkei

Von Martin Dolzer *

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat mit seiner Partei AKP einen Rückschlag hinnehmen müssen. Bei der Kommunalwahl vom Sonntag sackte die AKP im Vergleich zur Parlamentswahl vor zwei Jahren um acht Prozent ab und kam auf 39 Prozent. Behaupten konnte sich dagegen die Kurden-Partei Die prokurdische Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) erreichte trotz massiver Einschüchterungsversuche und Wahlbetrugs in mehreren Provinzen der Region Kurdistan 88 Bürgermeister-, Stadt- und Gemeinderatsposten (gegenüber 58 bei den letzten Kommunalwahlen. Von Martin Dolzer Türkeiweit erhielt die Partei 5,42 Prozent der Stimmen (ein Zuwachs von 0,7 Prozent. Sie wurde damit viertstärkste und einzige bedeutende linke Kraft. Besonders der Gewinn der Wahlen in Diyarbakir und der zweiten Metropole der Region, Van, sowie den -- besonders vom Krieg betroffenen -- Städten Sirnak und Hakkari ist für die DTP von großer Bedeutung. Auch die hinzugewonnenen Stadtverwaltungen in Tatvan und Nurcin, (Provinz Bitlis), sowie in Siirt und einzelnen Gemeinden der Provinz Bingöl bedeuten für die Bevölkerung die Möglichkeit, der Assimilationspolitik des türkischen Staates entgegenzuwirken.

Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Verstöße gegen die Menschenrechte wie Morde unbekannter Täter, Verschwindenlassen und weitere Formen der Repression innerhalb des letzten Jahres insgesamt zugenommen haben, ist das wichtig. Dem Menschenrechtsverein IHD wurden im letzten Jahr 1546 Fälle von Folter, die höchste Anzahl seit über zehn Jahren, angezeigt. Im Vergleich zu den 678 Fällen im Vorjahr ist diese Entwicklung mehr als bedenklich.

Besonders die AKP, die türkeiweit mit 38,42 Prozent erneut am meisten gewählt wurde, versuchte bereits vor den Wahlen in der Region Kurdistan durch Bestechung, Einschüchterungsversuche sowie die Verlegung von Polizei und Militär in umkämpfte Bezirke, die Wahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Während der Wahlen kam es zu gravierenden Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug. Regionale und internationale Wahlbeobachter berichteten von Schützenpanzern und Polizeifahrzeugen direkt vor den Wahllokalen in den Provinzen Sirnak, Bitlis, Bingöl und Hakkari. Schwerbewaffnete Sondereinsatzkräfte des Militärs, sowie der Polizei und des Geheimdienstes postierten sich ebenfalls vor und in Wahllokalen. An einigen Urnen wurden darüber hinaus bis zu 50 Prozent der Wahlzettel der DTP vernichtet. Die Wahlbeobachterdelegationen berichten zudem von teils schwerwiegenden Behinderungen ihrer Arbeit.

Die Politik der DTP basiert auf einem dezentralisierten, an den Interessen der Menschen in den sehr unterschiedlich entwickelten Regionen orientiertem Organisationsmodell und einer Kommunalpolitik, die an wesentlichen Problemfeldern, wie z. B. der Strom- und Wasserversorgung, der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie der Förderung genossenschaftlicher Betriebe ansetzt. Zur Lösung des Kurdistan- Konflikts schlägt die DTP einen Waffenstillstand zwischen dem Militär und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) vor. Sie sieht in einem konfliktheilenden Weg, wie er in Südafrika und mehreren südamerikanischen Staaten beschritten wurde, einen Ausweg.

Im Verlauf dieses Prozesses sollen die rassistische Unterdrückung der Kurden durch Staat und Militär überwunden und die Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte, ewa durch die Arbeit von Wahrheitskommissionen, aufgearbeitet werden. Die DTP spricht sich als Vertretung der kurdischen Bevölkerung für eine Generalamnestie für die Guerillas der PKK und deren Reintegration in das politische und gesellschaftliche Leben der Türkei aus.

Die Befreiungsbewegung genießt unleugbar großes Ansehen bei der kurdischen Bevölkerung. Da der türkische Staat, die Mehrzahl der verantwortlichen Politiker in Europa sowie die Regierung der USA, den seit Staatsgründung schwelenden Konflikt jedoch aus geostrategischen und kolonialistischen Gründen auf ein Terrorproblem reduzieren wollen, bleibt abzuwarten, wie sich die derzeit sehr angespannte Situation weiter entwickelt.

Prof. Dr. Norman Paech, Mitglied der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, erklärte zu der Wahl: »Ich begrüße, dass die DTP einen starken Rückhalt in der kurdischen Bevölkerung genießt, denn das ist die Basis für eine langfristige Verbesserung der Lage in den kurdischen Provinzen der Türkei und eine friedliche Entwicklung.«

* Aus: Neues Deutschland, 31. März 2009


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage