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Erdogan geht gestärkt in seine dritte Amtszeit

Trotz klaren Wahlsiegs braucht die islamisch-konservative AKP andere Parteien für die geplante neue Verfassung

Von Jan Keetman, Istanbul *

Der Wahlkampf der großen Projekte und nationalistischen Töne hat sich ausgezahlt. Tayyip Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) legte bei den türkischen Parlamentswahlen am Sonntag (12. Juni) noch einmal zu und erhielt 49,9 Prozent der Stimmen – verfehlte aber die nötige Zweidrittelmehrheit, mit der sie allein über die angestrebte neue Verfassung entscheiden könnte.

Mit Computersimulationen hatte Ministerpräsident Erdogan Fatma und Mehmet aus Anatolien eine Türkei gezeigt, wie sie sich ihre Heimat wünschen, reich und weltweit angesehen, mit schnellen Straßen und Zügen und großen Freizeitparks; ein Land, das seine Flugzeuge nicht importieren muss und selbst Waffen produziert. Eine Moderne als technisches Wunder unter Beibehaltung des traditionellen Glaubens.

Dass der AKP-Chef seine Versprechen gleich über drei Wahlperioden gestreckt hat, dass es zu keinem seiner Projekte eine Planung gibt, interessiert hierzulande im Augenblick niemanden. Denn mit seinen bisherigen ökonomischen Erfolgen hat Erdogan die Leute davon überzeugt, dass er liefern kann.

Abwesend war in diesem Wahlkampf dagegen der »liberale Erdogan«. Kurz vor dem Votum begann er sogar, über die Vorteile einer Wiedereinführung der Todesstrafe nachzudenken. Erst nachdem die Wahl gewonnen war, gab sich Erdogan wieder versöhnlich. Er versprach, auf seine Wahlkampfgegner zuzugehen und eine neue Verfassung mit ihnen gemeinsam zu erarbeiten. Es war im Prinzip die gleiche Rede, die er unmittelbar nach der letzten Wahl gehalten hatte – und von der nichts in die Praxis umgesetzt wurde.

Man sollte sich nicht täuschen, Erdogan ist nicht der Politiker, der sich von anderen die Verfassung schreiben lässt, und mit 50 Prozent im Rücken schon gar nicht. Trotzdem gibt es ein kleines Problem: Mit 326 Abgeordneten fehlen der AKP genau vier Stimmen, um ein Referendum beschließen zu können, damit das Volk die neue Verfassung bestätigt. Daher braucht Erdogan Hilfe von anderen Parteien. Allerdings kann er sich auch aussuchen, von wem.

Als Verlierer steht Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu da. Er konnte den Stimmenanteil seiner Republikanischen Volkspartei (CHP) zwar um fünf Prozent steigern, doch blieb er mit 25,9 Prozent deutlich unter den erhofften 30. Das moderne sozialdemokratische und wesentlich liberalere Gesicht, das er seiner Partei geben wollte, brachte bei dieser Wahl nicht den großen Durchbruch. Vor allem hat sich Kilicdaroglus Öffnung gegenüber den Forderungen der Kurden, die manche traditionellen Wähler der CHP verstört, nicht ausgezahlt. Statt Gewinnen waren gegen den Trend sogar leichte Verluste in den kurdischen Gebieten zu verzeichnen.

Die Kurdenfrage bleibt auch ein Problem zwischen Erdogan und der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Landesweit die wenigsten Stimmen bekam seine AKP mit 14 Prozent im kurdischen Hakkari, und auch in anderen Orten der Region konnte die BDP die AKP klar überrunden. Der Grund ist Erdogans nicht eingelöstes Versprechen einer »kurdischen Öffnung« und seine harte Wendung hin zu nationalistischen Positionen vor der Wahl. Doch nicht in allen kurdischen Gebieten hat die AKP verloren. In den von religiösem Konservativismus geprägten Gouvernements Bitlis und Urfa lag sie weit über dem Landesdurchschnitt. Dies könnte Erdogan in seinem Ansatz bestätigen, in der Kurdenfrage mehr auf Religion als auf Reform zu setzen.

Dass die AKP bei 50 Prozent gelandet ist, steht gleichsam symbolisch für die Spaltung des Landes. Die einen sehen eine AKP, die die Türkei immer weiter nach vorn bringt, die anderen eine Regierungspartei, die nur beständig ihre eigene Macht ausbaut. In Brüssel hofft man nach dem eindeutigen Wahlsieg des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan auf weitere Reformen. Dazu gehöre auch die Arbeit an einer neuen Verfassung – natürlich im Einklang mit europäischen Werten und Standards. Das könne mehr Schwung in die EU-Beitrittsverhandlungen bringen.

Zahlen und Fakten

Über 52 Millionen registrierte Wähler waren am Sonntag in der Türkei zur Stimmabgabe aufgerufen. Um die Gunst der Wähler bewarben sich 15 Parteien und 203 unabhängige Kandidaten, von denen viele der Kurdenpartei BDP zuzurechnen sind. Die Wahlbeteiligung lag bei mehr als 84 Prozent.

Die legendäre Kurdenpolitikerin Leyla Zana kehrte in die Volksvertretung zurück. Sie errang in der südostanatolischen Provinz Diyarbakir ein Direktmandat. Zana, die Anfang der 1990er Jahre als frisch gewählte Abgeordnete ins Gefängnis kam, weil sie bei der Vereidigung Kurdisch sprach, trat als nominell unabhängige Kandidatin mit Unterstützung der Kurdenpartei BDP an.

Auf demselben Weg wurde auch der erste christliche Parlamentsabgeordnete der Türkei seit einem halben Jahrhundert gewählt. Der Anwalt Erol Dora, ein Mitglied der syrisch-orthodoxen Christen, gewann als unabhängiger Kandidat mit BDP-Unterszützung ein Direktmandat in der Provinz Mardin. Mitte der 90er Jahre wurde ein jüdischer Abgeordneter gewählt; seitdem gab es nur noch muslimische Parlamentarier in Ankara. ND



* Aus: Neues Deutschland, 14. Juni 2011


Ein Wahlerfolg für den linken prokurdischen Block

Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko beobachte für den Europarat den Urnengang in der Türkei **

Der Aachener Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko sitzt für die LINKE im Ausschuss für EU-Angelegenheiten und ist Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Mit ihm sprach in Diyarbakir Martin Dolzer. Der Aachener Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko sitzt für d Der Aachener Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko sitzt für die LINKE im Ausschuss für EU-Angelegenheiten und ist Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Mit ihm sprach in Diyarbakir für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Dolzer.

ND: Sie waren bei den türkischen Parlamentswahlen am Sonntag Wahlbeobachter für den Europarat und Koordinator der Wahlbeobachter der LINKEN. Was genau haben Sie gemacht?

Hunko: Für den Europarat bin ich zusammen mit der französischen Senatorin Josette Durrieux in Van gewesen. Dort haben wir einige Wahllokale besichtigt, auch im Gefängnis von Van. Von dort aus sind wir dann nach Diyarbakir gefahren, wo wir uns u.a. mit der Aachener Friedenspreisträgerin Leyla Zana getroffen haben, die als unabhängige Kandidatin gewählt wurde. Parallel dazu stand ich den ganzen Tag in permanentem Kontakt mit den etwa zwei Dutzend Wahlbeobachtern der deutschen LINKEN, die auf Einladung der linkskurdischen BDP in der Region unterwegs waren. Sie haben immer zu zweit und mit einem Dolmetscher sensible Wahllokale besucht, in denen Probleme befürchtet wurden.

Und gab es Probleme?

Ja. Das Hauptproblem war die massive Präsenz staatlicher »Sicherheitskräfte«, von Polizei, Gendarmerie und Militär, in den Wahllokalen. Grundlage dafür ist eine Änderung des türkischen Wahlgesetzes, die es diesen Kräften erlaubt, sich bis auf 15 Meter statt wie bisher bis auf 100 Meter den Wahlurnen zu nähern. Wir haben aber in fast allen besuchten Orten Polizei, manchmal auch Militär, in den Wahllokalen selbst, ja sogar im unmittelbaren Wahlzimmer gesehen. Meine französische Begleiterin mit über 50 Wahlbeobachtungen u.a. in Palästina und Aserbaidschan sagte, sie habe eine so massive Präsenz von staatlichen Sicherheitskräften noch nie erlebt.

Es wurde dann sogar von Toten berichtet.

In der kurdischen Stadt Sirnak wurde eine feiernde Menge mit einer Handgranate attackiert. Drei Menschen starben dabei, über zehn wurden verletzt. Eine Gruppe des Bundestagsabgeordneten Harald Weinberg befand sich nur zehn Meter entfernt vom Ort der Explosion. In den Provinzen Van und Agri wurden besonders junge Menschen aus den Wahllokalen geprügelt oder gewaltsam am Wählen gehindert.

Und jenseits solcher Gewalt?

Es fiel auf, dass die Stimmzettel so gestaltet wurden, dass die Parteien sehr gut lesbar in großer Schrift und mit großen Symbolen sichtbar waren, während die unabhängigen Kandidaten keine Bilder hatten und ihre Schrift schwer lesbar war. Für ältere Menschen oder Analphabeten war es so kaum möglich, sie zu wählen. Gerade das Bündnis der kurdischen BDP und vieler türkischer Linken ist aber mit unabhängigen Kandidaten angetreten, um die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen.

Worauf führen Sie diese Behinderungen zurück?

Das zielt mit einer Reihe anderer Änderungen im Wahlgesetz und verschiedenen Repressionen eindeutig darauf, eine parlamentarische Vertretung der kurdischen Bewegung zu verhindern oder möglichst klein zu halten. Politisch finde ich das fatal. Wenn man den türkisch-kurdischen Konflikt friedlich lösen will, dann darf ein demokratischer Weg auf keinen Fall verbaut werden.

Wie bewerten Sie die Wahl insgesamt?

Zunächst einmal ist die extrem hohe Wahlbeteiligung von 84 Prozent bemerkenswert. Das zeigt einen hohen Politisierungsgrad. Die regierende konservativ-neoliberale AKP hat zwar weiter Stimmen gewonnen, ihr selbstgestecktes Ziel einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament jedoch deutlich verfehlt. Ich bin sehr froh darüber, weil ansonsten die Verabschiedung einer neuen Verfassung praktisch im Alleingang möglich gewesen wäre. Dennoch halte ich die Gefahr einer autoritären Entwicklung in der Türkei für sehr real, bis hin zur militärischen Lösung der kurdischen Frage.

Der eigentliche Gewinner der Wahl ist jedoch der BDP-geführte »Block für Arbeit, Freiheit und Demokratie«, der nach bisher 22 nun 36 Abgeordnete stellt. Natürlich sind die meisten kurdische Kandidaten. Gleichwohl bleibt die Perspektive eines dauerhaften Bündnisses zwischen der türkischen Linken und der erstarkten kurdischen Bewegung vielversprechend.

** Aus: Neues Deutschland, 14. Juni 2011


Meisterprüfung

Von Olaf Standke ***

Als Recep Tayyip Erdogan nach dem Wahltriumph der AKP vor seine jubelnden Anhänger trat, wurde er überschwänglich als »großer Meister« begrüßt. Der dritte Erfolg in Folge, noch einmal mit einem Stimmenzuwachs – in der Tat sitzt der islamisch-konservative Regierungschef fester denn je im Sattel der Macht. Nur bei den Kurden bekommt seine Partei kaum einen Fuß auf den Boden; zu groß ist die Enttäuschung über die unerfüllten Versprechungen Erdogans. Von der angekündigten »demokratischen Öffnung« ist kaum etwas geblieben. Geringschätzung, Diskriminierung, Misshandlungen stehen weiter auf der Tagesordnung.

Sie gehören zur Kehrseite des wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs der Türkei zu einer selbstbewussten Regionalmacht, auch wenn die nun schon über fünf Jahre andauernden EU-Beitrittsverhandlungen kaum noch vom Fleck kommen. So wie die Entwicklung der Bürgerrechte und Grundfreiheiten im Lande. Die Kurden sehen die Mandatsgewinne ihrer Partei BDP jedenfalls auch als Botschaft an den Regierungschef: Die Menschen wollen eine zivile Verfassung und den so lange vermissten Frieden. Hier vor allem wird sich zeigen, ob der große auch ein weiser Meister ist, denn zur Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung nach eigenem Gusto hat es für Erdogan am Ende dann doch nicht gereicht. Er muss nun auf die Opposition zugehen – als Versöhner und nicht als polternder Spalter.

*** Aus: Neues Deutschland, 14. Juni 2011 (Kommentar)


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