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Sterben in den F-Typ-Zellen

Gefangenenwiderstand in der Türkei dauert an. Angehörige befürchten Tod zahlreicher Häftlinge

Die Aktivisten von Tayad hatten schon damit gerechnet. Kaum waren die Mitglieder der Angehörigenorganisation der türkischen Gefangenen am 12. Februar aus Istanbul abgereist, um beim Justizminister in Ankara Klagen gegen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen einzureichen, wurden sie von Polizei in Uniform und Zivil verfolgt. Als sie dann in den frühen Morgenstunden in der Hauptstadt ankamen, wurden sie von schwerbewaffneten Uniformierten umzingelt. Es folgte eine Knüppelorgie. Ein junger Mann erlitt dabei schwere Kopfverletzungen. Er und elf weitere Mitglieder der Tayad- Gruppe wurden festgenommen. Die übrigen über 80 Personen quartierten sich in einem Kulturzentrum in Ankara ein und hielten an ihrer Forderung fest: Wir wollen als Gruppe zum Ministerium gehen und unser Anliegen vorbringen. Ihre Entschlossenheit wuchs noch, als die Meldung eintraf, der Gefangene Veli Celik sei an den Folgen des Hungerstreiks verstorben. Nachdem Celik wie Hunderte anderer türkischer Gefangener Ende Dezember gewaltsam in die Isolationszellen verlegt worden war, hatte er seinen Hungerstreik in ein Todesfasten umgewandelt. Über 2 000 Gefangene befinden sich mittlerweile im Hungerstreik.

Wenn es der türkischen Regierung auch nicht gelungen ist, den Widerstand der Gefangenen zu brechen, hat sie doch ein Ziel erreicht: Die Zivilgesellschaft außerhalb der Gefängnismauern ist eingeschüchtert. Während noch bis Mitte Dezember Tausende Menschen in vielen türkischen Städten für die Forderungen der Gefangenen auf die Straße gingen, waren es vor kurzem gerade einmal 2 000 Teilnehmer, die in Istanbul gegen die harte Haltung der Regierung in der Gefangenenfrage protestierten. Aufgerufen zu der Kundgebung im Zentrum von Istanbul am 11. Februar hatten unter anderem die prokurdische Partei HADEP und die linksreformistische ÖDP sowie mehrere Menschenrechtsvereine. Alle diese Organisationen sind seit der Gefängnisaktion verschärfter Repression ausgesetzt. Organisationsbüros wurden geschlossen und teilweise verwüstet. Vorstandsmitglieder der Organisationen werden willkürlich verhaftet. Dazu gehören auch die Vorstandsvorsitzenden von HADEP und der sozialistischen TISP.

Auch Gewerkschafter sind von der staatlichen Repression betroffen. Nachdem die Gewerkschaft der Gefängniswärter vom Staat aufgelöst wurde, weil sie gegen die miese Behandlung der Gefangenen protestierte, droht der in der linken Gewerkschaftsförderation DISK organisierten Transportarbeitergewerkschaft Nakliyat-Is das Verbot. Der Gewerkschaftsverband von Izmir hatte hungerstreikende Angehörige von Gefangenen in seinen Räumen beherbergt.

Der Istanbuler Nakliyat-Is-Vorsitzende, Ali Riza Kücükosmanoglu, sieht in der harten Haltung der Regierung in der Gefangenenfrage eine Warnung an alle Bevölkerungsschichten und speziell an die Arbeiter. Tatsächlich gab es im letzten Jahr große Arbeitermobilisierungen gegen die von IWF-Auflagen erzwungene Privatisierungspolitik, die mit verstärkter Arbeitslosigkeit und Senkung der schon niedrigen Kaufkraft verbunden ist. Nach der Militäraktion gegen die politischen Gefangenen ist die Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiter zurückgegangen, die neoliberale Politik wird umgesetzt.

Die Einschüchterung großer Teile der Bevölkerung wird dadurch verstärkt, daß die türkische Regierung seit einigen Wochen wieder zur Politik des Verschwindenlassens zurückkehrt. Mitte der 90er Jahre wurde diese Terrormaßnahme vor allem in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei massenhaft praktiziert. Am 6. Januar nun ist der politische Aktivist Yusuf Kirmizioglu auf dem Weg von Izmir nach Istanbul spurlos verschwunden. Sein letztes Lebenszeichen war ein Telefonanruf, in dem er seinen Angehörigen mitteilte, er sei in Istanbul eingetroffen. Am 28. Januar wurden die HADEP-Funktionäre Serdar Tanis und Ebukir Deniz von Zivilpolizisten in Kurdistan entführt. Sie sind seitdem verschwunden.

Währenddessen spitzt sich die Situation in den Gefängnissen zu. Die gesundheitliche Situation vieler Gefangener ist mittlerweile so schlecht, daß stündlich mit einem Massensterben gerechnet werden muß. Viele Gefangene verweigern seit fast 120 Tagen die Nahrung. Sie konnten nur so lange überleben, weil sie Vitamin-B-Tabletten zu sich nahmen. Doch auch diese letzte Zufuhr von lebenswichtigen Stoffen haben die Todesfastenden unterbrochen. Mehrere Gefangene haben in den letzten Tagen versucht, sich das Leben zu nehmen, um der Folter in den F- Typ-Zellen zu entgehen. »Der Staat kann doch nicht Dutzende Gefangene einfach sterben lassen. Zumindest die internationale Öffentlichkeit wird dann aktiv werden«, machen sich die Angehörigen selbst Mut.

Peter Nowak


Aus: junge welt, 23. Februar 2001

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