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Istanbul unter Belagerung

Die Türkei bereitet sich auf den 1. Mai vor. Polizei sperrt Taksim-Platz und will Kundgebungen verhindern. Erdogan droht mit Gewalt

Von Thomas Eipeldauer, Istanbul *

Schon eine Woche vor dem 1. Mai haben die Behörden in Istanbul begonnen, Hunderte Absperrgitter auf den Taksim-Platz zu schaffen. Mehr als 30000 Beamte werden am Arbeiterkampftag im Einsatz sein, um jede politische Kundgebung an dem zentralen Ort verhindern.

»Wenn du zu den Demonstrationen willst, solltest du unbedingt im europäischen Teil der Stadt übernachten. Sie werden alle Übergänge über den Bosporus sperren, Busse werden nicht fahren, die Metro nicht, Fähren auch nicht. Sie wollen verhindern, daß Leute kommen. Am 1. Mai herrscht immer eine Situation wie im Ausnahmezustand«, warnte ein Aktivist. »Und dieses Jahr wird es wahrscheinlich noch schlimmer.«

Den martialisch auftretenden Polizeitruppen werden Zehntausende Menschen gegenüber stehen, die sich das Recht, den 1. Mai auf dem Taksim zu begehen, nicht nehmen lassen wollen. Seit 1977 Bewaffnete in Istanbul das Feuer auf sozialistische Arbeiter eröffneten, mehrere Dutzend Menschen töteten und Hunderte verletzten, hat der Platz für die revolutionäre Bewegung in der Türkei eine besondere Bedeutung. Hinzu kommt dieses Jahr aber auch noch, daß es sich um die ersten Mai-Demonstrationen nach der Protestbewegung von 2013 handelt, die das politische Klima in der Türkei nachhaltig verändert hat.

Millionen Menschen waren im vergangenen Juni gegen den neoliberalen und autoritären Kurs der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf die Straße gegangen und hatten gegen Gentrifizierung und die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft, gegen Polizeigewalt und die Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen wie Kurden und Aleviten. Die gewaltsame Niederschlagung der landesweiten Proteste kostete acht Menschen das Leben. Die Bewegung mußte zwar die Dauerbesetzung von Gezi-Park und Taksim-Platz aufgeben, völlig verschwunden ist sie aber nicht mehr. Zuletzt beteiligten sich mehrere Millionen Menschen an der Beerdigung des 15jährigen Berkin Elvan, der am 16. Juli 2013 bei einem Polizeiangriff im alevitischen Arbeiterstadtteil Okmeydani von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen wurde und 269 Tage im Koma lag, bevor er am 11. März 2014 starb. Kleinere Demonstrationen finden täglich statt, die nach dem Gezi-Protest etablierten Foren kehren mit dem sonnigen Wetter in die Parks zurück, Arbeitskämpfe in Betrieben häufen sich.

Daß die im vergangenen Juni entstandene Bewegung nicht geschlagen ist, weiß auch Premierminister Erdogan. Er setzt seine harte Linie zur Unterdrückung jedweden Protests vor dem 1. Mai fort. Politische Aktionen, egal wie friedlich oder klein, sind in der Umgebung des Taksim grundsätzlich untersagt. Als sich am vergangenen Donnerstag aus Anlaß des »Welttages des Buches« einige Dutzend Menschen zum öffentlichen Lesen und Verschenken von Literatur im Gezi-Park trafen, wurden sie von einer Hundertschaft Zivilpolizei vertrieben. Wenige Stunden später versuchten Aktivisten, auf dem Taksim-Platz mit einem Transparent an Berkin Elvan zu erinnern. Die Polizei griff an, verletzte einige schwer und nahm 60 Personen vorläufig fest.

Erdogan sieht sich in seiner Null-Toleranz-Politik durch die – von zahlreichen Betrugsvorwürfen überschatteten – Kommunalwahlen vom 30. März bestätigt. Seine AKP wurde erneut stimmenstärkste Partei, und der Regierungschef nahm das zum Anlaß für Drohungen gegen die politische Opposition. Jetzt werde es Leute geben, »die aus der Türkei fliehen«, doch man werde sie zur Rechenschaft ziehen, weil sie »Chaos verbreitet« hätten. »Sie werden bezahlen«, so Erdogan in Richtung seiner Gegner. Für den 1. Mai sind angesichts dieser Gemengelage schwere Auseinandersetzungen zu erwarten.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 30. April 2014


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