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IS wird zur Sicherheitsgefahr für Ankara

Von Karin Leukefeld *

Nach dem tödlichen Anschlag auf eine Versammlung der Föderation Sozialistischer Jugendvereine im türkischen Suruc (kurdisch: Pirsus) am Montag hat Ministerpräsident Ahmed Davutoglu verstärkte Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze zu Syrien angekündigt. Gegenüber der Presse machte der türkische Premier die »Spannungen« im Nachbarland für den Anschlag verantwortlich. »Unsere Bürger müssen bedenken, dass Spannungen, Instabilität und Kämpfe in Ländern der Region sich auf den inneren Frieden in der Türkei auswirken können«, sagte er.

Mit seinem AKP-Parteikollegen und Amtsvorgänger Recep Tayyip Erdogan hat Ahmed Davutoglu seit Frühling 2011 den Konflikt in Syrien durch die einseitige Unterstützung der dortigen Muslimbruderschaft angeheizt. Spätestens seit Januar 2012 wurden Tausende Kämpfer und Hunderte Waffentransporte durch den türkischen Militärgeheimdienst (MIT) ins Grenzgebiet zu dem südlichen Nachbarstaat geschleust. Dort verteilten die Geheimdienstagenten – in Absprache mit dem US-Geheimdienst CIA – Waffen und Munition an Kampfverbände, die dort Schlange standen. Das Kriegsgerät kam laut New York Times (24.3.2013) erwiesenermaßen aus Libyen, Katar, Saudi Arabien und Kroatien. Für Aufregung sorgte ein offiziell von MIT-Agenten begleiteter Waffentransport, der im Januar 2014 bei Adana von der türkischen Polizei gestoppt und beschlagnahmt worden war. Gefunden wurden mehr als 50 Raketen und 40 Kisten Munition.

Die Kampfverbände, unter denen sich schon 2013 islamistische Truppen wie der »Islamische Staat«, die Nusra-Front und Ahrar Al-Scham durchgesetzt hatten, sollten sowohl die syrische Regierung stürzen als auch gegen die zunehmend selbstbewusst auftretenden nordsyrischen Kurden vorgehen. Letztere werden von der türkischen Regierung als »Bedrohung der nationalen Sicherheit« eingestuft.

In einem ausführlichen Artikel über das »Doppelte Spiel der Türkei mit dem IS«, beschrieb der Hürriyet-Kolumnist Burak Bekdil in der Zeitschrift Middle East Quarterly ( Sommer 2015) diese türkische »Frankenstein-Geschichte«. Der »Islamische Staat« sei mittlerweile eine Sicherheitsgefahr für Ankara selbst geworden, so Bekdil. Doch die türkische Regierung sei keineswegs »beschämt« darüber. Im Gegenteil, »sie investiert in jede radikale Gruppe, die den Türken helfen kann, Assad zu stürzen und ein Regime der Muslimbruderschaft in Syrien zu etablieren«.

Die Stadt Suruc liegt knapp zehn Kilometer von der syrischen Grenze entfernt und war früher für Seidenproduktion bekannt. Heute leben dort mehr als 30.000 Syrer, die vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen sind. Unmittelbar jenseits der Grenze liegt der nordsyrische Ort Ain Al-Arab mit einem Bahnhof der früheren Berlin-Bagdad-Bahn. Im vergangenen Jahr wurde er international unter dem kurdischen Namen Kobani bekannt und zu einem Symbol des Widerstandes gegen die Angriffe des IS.

Schon im Juli 2012 war Kobani zum Zentrum der als Rojava bekannten, quasi autonomen kurdischen Gebiete im Norden Syriens geworden. Damals hatten die syrischen Truppen sich aus dem Ort zurückgezogen, die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) übernahm die administrative Kontrolle von Ras Al-Ain, wie das Gebiet auf arabisch heißt. Zu den ersten Amtshandlungen gehörten das Hissen der kurdischen Fahne und die Umbenennung des Ortes in Kobani.

Standhaft weigerte sich die PYD, sich der vom Westen, der Türkei und den Golfstaaten gesponserten Oppositionsallianz »Nationale Koalition« mit Sitz in Istanbul oder der bereits im Juli 2011 gegründeten »Freien Syrischen Armee« (FSA) anzuschließen. Zum eigenen Schutz vor eventuellen Angriffen der regulären syrischen Armee und vor Attacken der FSA oder von islamistischen Gruppen waren die kurdischen Selbstverteidigungskräfte für Männer (YPG) und Frauen (YPJ) entstanden. Im Bündnis mit einem Dutzend syrischer Oppositionsgruppen, die sich im Nationalen Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (NCC) zusammengeschlossen hatten, vertrat die PYD die Politik der »drei Nein«: Nein zur ausländischen Intervention, nein zur Gewalt und nein zu konfessionellen Konflikten. Dagegen setzten die Türkei, der Westens und die Golfstaaten von Anfang an auf die Eskalation des innersyrischen Konflikts. Eine gewaltfreie, politische Lösung ohne ausländische Einmischung ausschließlich zwischen Opposition und Regierung in Syrien hatte bis heute keine Chance.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Juli 2015


»Den Widerstand intensivieren«

Nach dem Bombenattentat in der türkischen Grenzstadt Suruc macht die kurdische und türkische Linke mobil

Von Tom Eipeldauer **


Zauberlehrling Erdogan und seine Geister

Die taz hat sich mit der Kampagne »Adopt a Revolution« seit 2011 dem Regime-Change in Syrien verpflichtet. Nach dem Terroanschlag in Suruc war am Dienstag Nachdenkliches zum Umsturzhelfer in Ankara zu lesen:

(…) Jetzt rächt sich, dass die türkische Regierung über Jahre den IS in der Türkei heimlich gewähren ließ, in der Hoffnung, mit Hilfe der Islamisten das Regime Assad wie auch die Kurden in Syrien bekämpfen zu können. Plötzlich geben sich Regierung und Staatspräsident Tayyip Erdogan entsetzt. (…) Umgehend wurden am Montag Befürchtungen laut, dass Suruc nur der Auftakt für eine Terrorwelle sein könnte, mit der der IS nun die Türkei überziehen wird. Hunderte junger Türken kämpfen in Syrien und in Irak in den Reihen des IS. In Istanbul, in Ankara, aber vor allem in den grenznahen Großstädten wie Urfa und Gaziantep dürften sich Tausende IS-Mitglieder oder Sympathisanten aufhalten, die auf Anweisung ihrer Führer sofort zuschlagen könnten. Erdogan droht zum Zauberlehrling zu werden, der die einstigen Verbündeten jetzt nicht mehr unter Kontrolle bekommt. (...)

Auch die FAZ stellte am Dienstag mit einem Mal fest, dass das NATO-Mitglied Türkei »lange Zeit Islamisten jenseits der Grenze unterstützte«:

Die Szenen erinnerten an den Mai 2013. Vor gut zwei Jahren ereignete sich im türkischen Ort Reyhanli in der Provinz Hatay der bis dahin schwerste Anschlag auf Zivilisten im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien. Bei zwei Sprengstoffexplosionen waren damals mehr als 50 Personen getötet und mehr als 100 weitere verletzt worden. Schon wenige Minuten nach dem Verbrechen kursierten seinerzeit erste Bilder vom Tatort im Internet: Tote und Verwundete, Rauch, Staub, Angst, Schreie.
Ähnliche Bilder des Grauens waren auch am Montag im Umlauf, nachdem ein Sprengstoffanschlag in der mehrheitlich von Kurden bewohnten türkischen Grenzstadt Suruc, gelegen in der Provinz Sanliurfa, mehrere Dutzend Menschen in den Tod gerissen hatte. (…) Auffällig war, dass die türkische Regierung unmittelbar nach dem Anschlag eine andere Sprache wählte als nach der Tat von Reyhanli, als nicht nur der damalige Außenminister Ahmet Davutoglu rasch mit der Behauptung hervortrat, das Blutbad sei ein Werk des syrischen Assad-Regimes. (…)
Man weiß heute mehr als vor zwei Jahren über die zumindest zeitweilig fragwürdige Rolle Ankaras bei der Unterstützung islamistischer Kämpfer in Syrien. Dass islamistische Gruppen die türkischen Grenzgebiete zu Syrien als Rückzugsort und zur Behandlung ihrer verwundeten Kämpfer nutzen konnten, konnte jeder sehen, der sich nur ein paar Tage dort aufhielt. Mutige türkische Journalisten haben in den vergangenen Monaten zudem zumindest partiell nachweisen können, dass der Geheimdienst der Türkei mindestens bis 2013 noch Waffen und Munition an islamistische Gruppen in Syrien geliefert, in anderen Fällen die Lieferung durch Wegsehen geduldet hat. (…)



Mindestens 32 Tote, Dutzende Verletzte, einige davon schwer – das ist die vorläufige Bilanz des verheerenden Anschlags auf das linke Kulturzentrum Amara in der südtürkischen Kleinstadt Suruc am Montag. Mehrere hundert Jugendliche der Sosyalist Genclik Dernekleri Federasyonu, der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF), hatten sich dort getroffen. Sie aßen gemeinsam, kamen dann zu einer Pressekonferenz zusammen. Ihr Ziel danach: die wenige Kilometer entfernt, auf der syrischen Seite der Grenze gelegene Kurdenstadt Kobani, die nach den Monate andauernden Gefechten zwischen Einheiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) immer noch nahezu vollständig zerstört ist. Man wolle die »Dinge, die notwendig sind für eine freie Zukunft, ein menschenwürdiges Leben, eine lebenswerte Umwelt« aufbauen. So hatten die Aktivisten es in einer Erklärung festgehalten, bevor sie in die türkische Grenzstadt Suruc reisten.

Dazu sollte es nicht kommen. Um die Mittagszeit entrollten die Jugendlichen ein Transparent, einige dutzend Menschen versammelten sich hinter dem Banner, riefen Parolen. Dann explodierte der Sprengsatz. Viele starben sofort, andere blieben schwer verletzt liegen.

Die Geschichten der jungen Sozialistinnen und Sozialisten, die in Suruc starben oder verwundet wurden, widerspiegeln die Kämpfe der vergangenen Jahre. Sie kommen aus verschiedenen Regionen, unterschiedlichen politischen Traditionen und doch haben sie viele Gemeinsamkeiten. Es sind Menschen wie Koray Çapoglu, der aus der Faschistenhochburg Trabzon nach Suruc gereist war, um beim Wiederaufbau Kobanis zu helfen. Oder Cebrail Günebakan, der durch die Mißhandlungen, die er bei seiner Verhaftung nach Protesten in Adana erlitt, vor einem Jahr in der Türkei bekanntgeworden war. Menschen wie der 17jährige Okan Pirinc aus Hatay, die Istanbuler Kunststudentin Hatice Ezgi Sadet oder der Antimilitarist und Wehrdienstverweigerer Alper Sapan aus Eskisehir.

Einen Tag nach dem Anschlag sind immer noch nicht alle Opfer identifiziert. Die türkischen Behörden gehen »mit größter Wahrscheinlichkeit« von einem Anschlag des IS aus. Das Massaker trägt eindeutig die Handschrift des »Islamischen Staats«. Die Botschaft: Wer auch immer mithelfen will, das symbolisch bedeutsame Kobani wiederaufzubauen, muss damit rechnen, ermordet zu werden.

Vieles spricht aber auch dafür, dass der türkische Staat an dem Attentat nicht unschuldig ist. Zum einen trägt gerade die Regierungspartei AKP zu einem Klima des Hasses auf Linke und Kurden bei, zum anderen haben Ankara und sein Geheimdienst MIT in den vergangenen Jahren immer wieder islamistische Terrormilizen gegen die kurdische Befreiungsbewegung gewähren lassen oder sogar aktiv unterstützt. »Die AKP ist direkt verantwortlich für das Massaker an Jugendlichen in Suruc«, hieß es in einer Erklärung der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK). Die Regierungspartei wolle offenkundig »einen Krieg gegen die demokratischen Kräfte in der Türkei führen« Dagegen sei »der Widerstand gegen die AKP-Regierung zu intensivieren«.

Diesem Aufruf folgten am Montag abend Zehntausende Menschen. In zahlreichen europäischen Großstädten kam es zu Demonstrationen, in der Türkei, vor allem in Istanbul, lieferten sich Tausende linke und kurdische Aktivisten schwere und zum Teil bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Polizei. Bemerkenswert dabei ist, dass alle – ansonsten oft zerstrittenen – Kräfte der revolutionären Linken gemeinsam handelten. Polizeistationen in den linken Istanbuler Vierteln Gazi und Kücük Armutlu wurden beschossen, Einrichtungen von Islamisten angegriffen. »Wir müssen uns organisieren und den gemeinsamen Kampf unabhängig von den ideologischen Differenzen stärken. Eine revolutionäre Front, die sich bewaffnet und gegen den Faschismus der türkischen Regierung alle Minderheiten und fortschrittlichen Gruppen beschützt, muss geschaffen werden«, erklärte einer der bewaffneten Milizionäre gegenüber dem Istanbuler Journalisten Sinan Targay. »Wir müssen zum aktiven, auch bewaffneten Kampf übergehen. Sonst werden alle reaktionären Organisationen wie der IS oder auch der faschistische türkische Staat sich durch ihren Terror bestätigt fühlen und immer aggressiver und skrupelloser werden.«

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Juli 2015


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