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Türkischer Wahlkampfauftakt in Berlin

Regierungschef Erdogan wegen Korruptionsaffäre vor anstehenden Wahlen unter Druck

Von Katja Herzberg *

Sein Berlin-Besuch sollte ein erster Stimmungstest für den türkischen Premier werden. Erdogan sprach am Abend vor 3000 türkischen Staatsbürgern.

Noch knapp zwei Monate hat der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan Zeit, die Bürger seines Landes wieder auf seine Seite zu ziehen. Die Korruptionsaffäre in höchsten Positionen, aber auch der Absturz der türkischen Lira setzten Erdogan zuletzt unter Druck. Die Kommunalwahl am 30. März soll einen »Wendepunkt« darstellen, sagte Erdogan am Dienstag in Berlin.

Bei einer Rede vor 3000 in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern wollte er am Abend den Führungsanspruch seiner konservativ-islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) untermauern. Der Auftritt stellte aber nicht nur den Auftakt des Wahlkampfes für die Neubesetzung der Rathäuser in der Türkei dar, sondern sollte die Zuhörer vor allem auf die Präsidentschaftswahl im Sommer einstellen. Dann nämlich werden erstmals auch in Deutschland Wahllokale geöffnet sein.

Die AKP hatte bei den letzten Wahlen sowohl auf kommunaler als auch auf nationaler Ebene an Stimmen gewonnen. Der Trend könnte sich diesmal umkehren. Seit den massiven Protesten im Sommer letzten Jahres, die sich an der Bebauung des Gezi-Parks entzündeten und in Forderungen nach dem Rücktritt des Premiers mündeten, ist Erdogan um den Erhalt seiner Macht bemüht.

Doch nicht nur eine Protestbewegung für mehr demokratische Teilhabe und gegen eine mögliche Islamisierung ist entstanden, bei der Kommunalwahl wird ein neues Linksbündnis antreten. Grüne, sozialdemokratische Gruppierungen, aber auch die Kurdenpartei BDP hatten sich im Oktober zur Demokratischen Partei der Völker (HDP) zusammengeschlossen. Bei Konferenzen erarbeitet sie derzeit ein Wahlprogramm zur Demokratisierung der türkischen Gesellschaft. »Das Verhalten von Erdogan wird als in höchsten Maße widersprüchlich betrachtet, da er einerseits weitreichende Reformen angekündigt hat, andererseits aber dabei ist, die letzten Reste von Demokratie auszuhebeln«, sagt Dominic Heilig gegenüber »nd«. Das Vorstandsmitglied der Europäischen Linkspartei traf am Wochenende in Ankara Vertreter der HDP. »Nach dem Niedergang der Kommunistischen Partei mit ihrem Verbot 1987 ist die HDP das erste Projekt, auf das sich viele linke Kräfte einlassen«, so Heilig über die Sammlungsbewegung.

Der Korruptionsskandal um illegale Baugenehmigungen und Bestechung von Politikern war auch Thema bei Gesprächen in Berlin. In den letzten Wochen wurde reihenweise Polizeibeamte und Staatsanwälte entlassen. Erdogan selbst wähnt sich einer Verschwörung »ausländischer Mächte« ausgesetzt. Gemeint ist die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Dieser strengt nun eine Klage gegen Erdogan wegen Beleidigung an.

Davon zeigte sich Erdogan unbeeindruckt. Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach er auch über die EU-Beitrittsverhandlungen. »Wir können uns sehr gut vorstellen, dass die Kapital 23 und 24 bald geöffnet werden«, so Merkel. Dazu gehören die Bereiche Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Erdogan betonte mit Verweis auf wirtschaftliche Erfolge der letzten Jahre, dass die EU die Türkei brauche. Das Land ist seit 1999 Beitrittskandidat.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. Februar 2014


Proteste gegen Erdogan

Alevitische Gemeinde kritisiert autokratische Zustände in der Türkei

Von Nick Brauns **


Im eigenen Land ist der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach landesweiten Protesten gegen sein autoritäres Regime jetzt mit Korruptionsermittlungen gegen führende Politiker seiner islamisch-konservativen AK-Partei konfrontiert. Doch als reuiger Bittsteller kam der »Sultan vom Bosporus«, wie ihn seine Kritiker nennen, gestern nicht nach Berlin.

Den Korruptionsvorwurf gegen seine Regierung wies Erdogan bei einem Vortrag in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zurück. Statt dessen sprach er von einem »Angriff organisierter Strukturen in Polizei und Justiz« auf Demokratie und Stabilität und behauptete, Abgeordnete, Minister und Geschäftsleute seien durch Kriminelle erpreßt worden. Damit zielte Erdogan offenbar auf die Anhänger seines langjährigen Bündnispartners und jetzigen erbitterten Gegners, des Prediger Fethullah Gülen, die in Polizei- und Justiz einen regelrechten Parallelstaat gebildet haben. Seiner Regierung seien bei ihren Bemühungen »zur Erfüllung der europäischen Standards« eine »Vielzahl von Fallen gestellt worden«, gab Erdogan »ausländischen Mächten« die Schuld an mangelnden Fortschritten bei der Demokratisierung des Landes. Doch gleichzeitig rechtfertigte er die Inhaftierung Dutzender oppositioneller Journalisten in der Türkei mit deren angeblichen Verbindungen zu Terror­organisationen.

Von den »Freunden« in Berlin forderte Erdogan eine stärkere Unterstützung im stockenden EU-Beitrittsprozeß. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich nach dem Gespräch mit Erdogan gegenüber einer raschen EU-Vollmitgliedschaft der Türkei zurückhaltend. Gegen die Eröffnung eines neues EU-Beitrittskapitels sprach sich unterdessen die Linksfraktion aus. »Die Rechte von Beschäftigten, Gewerkschaftern, Aleviten und Kurden in der Türkei dürfen nicht auf dem Altar geopolitischer Strategen geopfert werden«, forderte deren Sprecherin für internationale Beziehungen, Sevim Dagdelen.

»Erdogan ist ein Antidemokrat«, erklärte die Alevitische Gemeinde Deutschlands (AABF) in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel unter Verweis auf »autokratische Zustände, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Korruption sowie Verstöße gegen die demokratische Grundordnung« in der Türkei. Vor dem Brandenburger Tor protestierten rund 2000 Menschen gegen Erdogan.

Neben der veranstaltenden Alevitischen Gemeinde waren zahlreiche Anhänger türkischer und kurdischer sozialistischer Gruppierungen mit ihren Fahnen anwesend. Insbesondere revolutionäre Gruppen machten deutlich, daß auch Erdogans Rivale Gülen für eine autoritär-neoliberale Politik steht und keine demokratische Alternative ist. Auf einer separaten Demonstration zogen einige hundert Anhänger der nationalistischen »Türkischen Jugendeinheit« (TGB) mit Bildern von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk vor das Kanzleramt, um gegen Erdogans »faschistisches Regime« zu protestieren. Mehrere tausend Erdogan-Fans wurden für eine Kundgebung des türkischen Ministerpräsidenten am Abend im Berliner Tempodrom erwartet.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. Februar 2014


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