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Erdogan liefert EU Ablehnungsargumente

Parlament in Straßburg zum Beitrittsprozess / 150 Festnahmen nach neuen Protesten in der Türkei

Von Roland Etzel *

Das EU-Parlament hat im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei die Regierung in Ankara zu einer Verfassungsreform aufgefordert. Zur selben Zeit ging dort die Polizei gegen Demonstranten vor.

Die schier endlose Geschichte der Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei seit 2005 wurde am Mittwoch um eine Episode reicher. In Straßburger Europaparlament wurde der im Oktober vorgelegte Jahresbericht 2013 über das Kandidatenland Türkei verhandelt. Nach den wochenlangen gewaltsamen Auseinandersetzungen um den Istanbuler Gezi-Park im Frühjahr vorigen Jahres war es wenig verwunderlich, dass dieser Bericht von erheblicher Kritik am Umgang der türkischen Behörden mit öffentlichem Protest geprägt war. Es gab ein unverhältnismäßig hartes Vorgehen staatlicher Bewaffneter gegen Demonstranten, die Verunglimpfung dieser als Terroristen und Staatsfeinde und überhaupt wenig, was dem von der EU geforderten Umgang mit Konflikten im öffentlichen Raum entsprach.

Obwohl auch in EU-Staaten im Zweifelsfalle eher draufgehauen als diskutiert wird – siehe die brutale Gewalt bei Anti-G8-Protesten, Polizeiübergriffen bei Stuttgart 21 oder Sozialprotesten in London – die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan hatte sich die Verweigerung mildernder Umstände redlich verdient. Der Chor der Kritiker vereinte dabei gewollt oder ungewollt die beiden, bezogen auf die Türkei, großen Lager in EU-Europa: jene vorwiegend Grünen, Linken und Sozialdemokraten, die die Aufnahme der Türkei prinzipiell befürworten, ihr dabei aber keineswegs durchgehen lassen wollen, dass der äußerst repressive Charakter ihres Staatsverständnisses gegenüber dem Normalbürger quasi mit in die EU transportiert wird; und auf der andere Seite jene vor allem christlich-konservativen Kreise, die zwar immer wieder bereit sind, bei »Anti-Terror-Einsätzen« der türkischen Polizei ein Auge zuzudrücken«, hier aber wegen ihrer prinzipiellen Ablehnung einer Türkei-Aufnahme gern auf fehlende demokratische Standards verweisen, um sich vor einer Begründung ihres prinzipiellen Neins drücken zu können.

So erklärte der Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Markus Ferber, am Mittwoch: »Ein Land das damit droht, das Internet zu sperren und vor wenigen Wochen noch mit massiver Gewalt friedliche Demonstranten niederknüppeln ließ, zeigt damit deutlich seine Verachtung für europäische Werte. Auch die Grünen und Sozialisten im Europäischen Parlament sollten langsam einsehen, dass ihr eingeschlagener Kuschelkurs mit der Türkei nicht der richtige Weg ist, um die Türkei an die EU heranzuführen.«

Am Ende formulierte man gemeinsam, dass das Europaparlament besorgt sei über die politische Entwicklung in der Türkei. Vor allem die jüngsten Internet-Gesetze und die Kontrolle des Staates über die Justiz ließen die Türkei auf einen »Weg abgleiten«, der sie von Kriterien für einen Beitritt zur EU entferne. Gefordert wurde »eine grundlegende Verfassungsreform«. Aber es gab auch Lob für Ankara von der Berichterstatterin, der niederländischen Christdemokratin Ria Oomen-Ruijten, um Erdogan wohl nicht all zu sehr zu erzürnen: Häftlinge seien entlassen worden, die Achtung der Menschenrechte in der Justiz habe sich verbessert. Ausdrücklich anerkannt wurde die großzügige Hilfe für syrische Flüchtlinge.

Konnte man angesichts der Massenentlassungen von Häftlingen aus türkischen Gefängnissen am Dienstag noch vermuten, dass Erdogan damit seine Kritiker in der EU besänftigen wollte, so sprechen die gestrigen Ereignisse in der türkischen Hauptstadt für das Gegenteil. In Ankara waren erneut Tausende Demonstranten auf die Straße gegangen. Als sie eine Hauptverkehrsachse blockieren wollten, war die Toleranzgrenze der Ordnungshüter bereits überschritten: Die Leute wurden laut AFP mit Tränengas und Wasserwerfern auseinandergetrieben. Sie wollten der Beerdigung eines 15-Jährigen beiwohnen, der vor neun Monaten bei Zusammenstößen zwischen die Fronten geraten, von einer Tränengasgranate der Polizei am Kopf getroffen wurde und nach 269 Tagen im Koma gestorben war. Erdogan hatte sich auf eine für ihn typische Weise entschuldigt – indem er die Polizisten anschließend als Helden bezeichnet hatte. Vorläufige Tagesbilanz am Mittwoch bis zum Nachmittag: 20 Verletzte und 150 Verhaftungen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. März 2014


Massenproteste gegen Erdogan

Türkischer Premier sucht Bündnis mit Militär. Faschistische Mörder in Freiheit

Von Nick Brauns **


Die Türkei erlebt derzeit die Rückkehr der Gezi-Park-Bewegung. Keine drei Wochen vor den Kommunalwahlen sieht sich der durch Korruptionsvorwürfe unter Druck geratene Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erneut massiven Protesten ausgesetzt. Auslöser war der Tod des 15jährigen Schülers Berkin Elvan. Der Junge, der während der Massenproteste gegen Erdogan im Juni vergangenen Jahres beim Brotkaufen von einer Tränengasgranate der Polizei am Kopf getroffen worden war und seitdem im Koma lag, war zu einem Symbol für die Polizeigewalt des Erdogan-Regimes geworden. Am Dienstag starb er in einem Istanbuler Krankenhaus. Elvan ist das achte Todesopfer im Zusammenhang mit den Gezi-Park-Protesten.

Am Dienstag abend gingen Zehntausende Menschen in zahlreichen Städten der Türkei auf die Straße. In Istanbul und der Hauptstadt Ankara kam es bis spät in die Nacht zu Straßenschlachten mit der Polizei, die die Demonstranten mit Reizgas und Wasserwerfern attackierte. Tausende Menschen, darunter eine Reihe von Politikern der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der sozialistischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) versammelten sich am Mittwoch in Istanbul zur Beerdigung von Elvan. Sozialistische Gruppen errichteten rund um das alevitische Gebetshaus im Stadtteil Okmeydani Barrikaden zum Schutze der Trauernden.

Die Istanbuler Börse legte am Mittwoch vor Handelsbeginn eine Schweigeminute für den getöteten Schüler ein. Vizeministerpräsident Bülent Arinc erklärte, die ganze Türkei trauere um Elvan. Dagegen verurteilte die illegale Arbeiterpartei Kurdistans PKK »Lügen und Demagogie«. In Ankara traten linksgerichtete Gewerkschaften in einen eintägigen Streik und forderten den Rücktritt der Regierung.

Eine Kondolenzbotschaft an Elvans Familie kam auch vom pensionierten Imam Fethullah Gülen aus den USA. Dessen religiös-nationalistische Bewegung hat großen Einfluß im Justiz- und Polizeiapparat und gilt als Drahtzieher der laufenden Korrup­tionsermittlungen gegen hochrangige Politiker der regierenden islamisch-konservativen AKP. Erdogan spricht von einem Putschversuch eines »Parallelstaates« der Gülenisten. Durch die Korruptionsermittlungen in die Enge getrieben, buhlt der Premier jetzt um die Gunst der bis vor kurzem noch durch kafkaeske Gerichtsprozesse in ihre Schranken verwiesenen Armee. Diesem Ziel dient ein Justizgesetz, mit dem die Dauer von Untersuchungshaft auf fünf Jahre begrenzt und die für Terrorismusverfahren zuständigen, mit Sondervollmachten ausgestatteten Staatsanwaltschaften aufgelöst wurden. Letztere galten als eine besondere Domäne der Gülen-Juristen, die damals noch im Bündnis mit der AKP mit Massenverhaftungen und Schauprozessen laizistische, kurdische und linke Gegner der Regierung ausgeschaltet hatten.

Aufgrund der Justizreform sind in den vergangenen Tagen bereits rund 20 Offiziere und Generäle freigekommen, die im vergangenen Jahr noch erst­instanzlich aufgrund der angeblichen Bildung einer »Ergenekon« genannten Putschistenloge verurteilt worden waren. Unter den Freigelassenen sind der zu lebenslanger Haft verurteilte ehemalige Generalstabschef Ilker Basbug und der frühere Chef des für unzählige Morde an kurdischen Oppositionellen verantwortlichen Geheimdienstes der Militärpolizei JITEM, Levent Ersöz.

Bei der kemalistischen Opposi­tion, die das »Ergenekon«-Verfahren als ungesetzliche Hexenjagd kritisiert hatte, riefen die Haftentlassungen gemischte Gefühle hervor. »Einige der Entlassungen sind sehr erfreulich, aber andere verletzten das Gewissen der Menschen«, klagt der CHP-Vizevorsitzende Gürsel Tekin, da neben den aus politischen Gründen Inhaftierten auch offensichtliche Straftäter freikommen. Freigelassen wurde so der bereits als Mörder eines Richters am Staatsgerichtshof überführte Rechtsradikale Alparslan Arslan und der als Hintermann bei der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink im Jahr 2007 in Istanbul geltende Erhan Tuncel. Für Angstreaktionen unter Christen in der Türkei sorgt die Haftentlassung von fünf Faschisten, die im April 2007 in Malatya drei Missionare bestialisch ermordetet haben sollen. Eine Aufklärung dieser Verbrechen und die abschließende Verurteilung der Täter war durch Seilschaften im Staatsapparat jahrelang verschleppt worden.

** Aus: junge welt, Donnerstag, 13. März 2014


Die Tür bleibt geschlossen

Uwe Sattler sieht einen EU-Beitritt der Türkei in weite Ferne gerückt ***

Manche Probleme erledigen sich von selbst. Am Mittwoch hat das Europaparlament den sogenannten Fortschrittsbericht zur Türkei bestätigt, in dem die Beitrittsfähigkeit des Landes zur EU durchleuchtet wird. Tenor: Vom Prinzip ist Ankara auf dem richtigen Wege, aber der Nachholbedarf bei demokratischen Grundrechten ist für eine Aufnahme noch zu groß.

Seit 2005 verhandelt die EU mit der Türkei über eine Aufnahme. Eine reale Chance allerdings hatte Ankara dafür nie. Gerade die Konservativen in Europa, die in den meisten Mitgliedsstaaten die Regierungen stellen, pflegen altbekannte Vorbehalte wie eine drohende »Überfremdung« und eine Zunahme des extremen Islamismus in Westeuropa. Offen gesagt wurde das selten, dafür aber praktisch gehandelt: In den Beitrittsgesprächen wurden immer neue Hürden errichtet. Aber auch den jeweiligen Staatsspitzen in Ankara dürfte der Schlingerkurs der Europäer ins Konzept gepasst haben. Konnte man sich doch den Wählern als scharfe Kritiker der EU-Hinhaltetaktik verkaufen.

Mit seinem Vorgehen gegen die Gezi-Demonstranten und Korruptionsermittler hat der türkische Premier Erdogan faktisch das »Kapitel EU« geschlossen. Das Europaparlament forderte nicht weniger als eine »grundlegende Verfassungsreform« als Basis weiterer Gespräche. Ein Beitritt dürfte damit in weite Ferne gerückt sein. In Brüssel werden nicht Wenige darüber frohlocken.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. März 2014 (Kommentar)


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