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Polizei stürmt Fabrik

Besetzung in Istanbul nach zwei Monaten gewaltsam beendet

Von Nick Brauns *

Die türkische Polizei hat am Donnerstag eine von Arbeitern besetzte Fabrik in Istanbul gestürmt. Seit zwei Monaten hatten Hunderte Beschäftigte eine Fertigungsstätte des US-amerikanischen Verpackungsherstellers Greif im Bezirk Esenyurt auf der anatolischen Seite der Stadt bestreikt, um gegen »Hungerlöhne und Sklavenarbeitsbedingungen« zu protestieren.

In der Nacht zum Donnerstag umstellten Hunderte Polizisten mit schwerem Räumgerät die Fabrik. Um 5.50 Uhr in der Frühe drangen zuerst Zivilbeamte durch einen Hintereingang in das Werk ein. Kurz darauf durchbrachen ihre uniformierten Kollegen mit Baufahrzeugen die verbarrikadierten Werkstore. Während ein Teil der Arbeiter auf die Dächer floh, um von dort aus Widerstand zu leisten, nahm die Polizei fast 100 Besetzer und Aktivisten der Solidaritätsbewegung fest. Dabei gab es Augenzeugenberichten zufolge viele Verletzte, die in Krankenhäuser gebracht werden mußten. Unter den Festgenommenen sind der Streikführer Orhan Turan sowie ein Journalist der sozialistischen Zeitung Kizil Bayrak (Rote Fahne). Nach Beginn der Räumung trafen die Generalsekretärin der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaft DISK, Arzu Cerkezoglu, sowie der sozialistische Parlamentsabgeordnete Levent Tüzel vor Ort ein, um zu vermitteln. Obwohl die DISK-Führung nach Meinung vieler Greif-Arbeiter vorab über den Einsatz informiert war, verurteilte die Gewerkschaft über den Internetdienst Twitter die Polizeigewalt gegen die Arbeiter.

Die Eskalation hatte sich in den Tagen zuvor bereits abgezeichnet. So wurde am vergangenen Freitag einer der Sprecher der Streikenden, Engin Yilgin, aus seiner Funktion als hauptamtlicher Repräsentant der zur DISK gehörenden Textilarbeitergewerkschaft von Esenyurt gekündigt. »Der Grund für meine Entlassung war, daß ich nicht Teil des Verrats der Gewerkschaft werden wollte«, erklärte er daraufhin bei einer Pressekonferenz. Gemeint war damit ein am Sonntag hinter dem Rücken der Streikenden von Greif-Generaldirektorin Sevinc Yener, dem Vorsitzenden der Textilarbeitergewerkschaft, Ridvan Budak, sowie DISK-Vizegeneralsekretär Muzaffer Subasi unterzeichnetes Abkommen zur Beendigung des Besetzungsstreiks. In dem junge Welt vorliegenden Dokument verpflichteten sich die Gewerkschaftsführer, eine friedliche Räumung der Fabrik bis zum Morgen des folgenden Tages zu veranlassen. Das konnten sie jedoch bei den Arbeitern nicht durchsetzen.

Die Fabrik war am 9. Februar besetzt worden, weil die Beschäftigten mit dem Fortgang der Tarifverhandlungen zwischen der Textilarbeitergewerkschaft und der Firmenleitung unzufrieden waren. Gefordert wurde eine deutliche Erhöhung der Löhne, die bei vielen Arbeitern gerade einmal das gesetzliche Minimum von 850 Lira (etwa 292 Euro) betragen, sowie Überstundenzuschläge für die willkürlich auf bis zu zwölf Stunden täglich verlängerte Arbeitszeit. Zudem forderten die Streikenden eine Festanstellung der Leiharbeiter, die in den beiden Istanbuler Greif-Standorten zwei Drittel der 1500 Beschäftigten ausmachen.

Am Donnerstag war auch eine gesetzliche Frist ausgelaufen, bis zu deren Ende die Tarifverhandlungen abgeschlossen werden mußten. Yilgin äußerte deshalb kurz vor seiner Festnahme die Vermutung, daß die Gewerkschaftsführung nun einen Vertrag mit dem Unternehmen unterzeichnen werde. Wie dieser aussehen wird, war unklar. Yilgin ging gegenüber Reportern davon aus, daß alle Streikenden gefeuert werden. Schon zu Wochenbeginn hatte die Unternehmensleitung Massenentlassungen ausgerechnet zum 1. Mai angekündigt.

Bei jW-Redaktionsschluß hielten noch rund 15 Arbeiter das Fabrikdach besetzt. Vor dem Unternehmensgelände hatten sich Mitglieder linker Organisationen versammelt, um ihre Unterstützung für die Streikenden zu demonstrieren.

* Aus: junge welt, Freitag, 11. April 2014

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