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Erdbeben als Vorwand zur Gentrifizierung

Im Istanbuler Stadtteil Okmeydani wollen die Behörden Tausende Häuser abreißen lassen

Von Thomas Eipeldauer *

Der profitorientierte Umbau der Metropolen der Türkei geht in eine neue Runde. Bereits am 3. Juni erklärte der Magistrat des Istanbuler Stadtteils Beyoglu Teile des Stadtbezirks Okmeydani zu »erdbebengefährdetem Gebiet«. Betroffen sind die Nachbarschaften Fetihtepe, Kaptanpasa, Kececipiri, Piripasa and Piyalepasa. Damit droht dort nun etwa 5600 Häusern der Abriß.

Was auf den ersten Blick wie eine Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung aussieht, ist in Wahrheit nichts anderes als ein weiteres Gentrifizierungsvorhaben der türkischen Behörden. Die Praxis, Gebiete, die man gerne umbauen möchte, zu »Erdbebenrisikozonen« zu erklären, ist gängig. Erste Zweifel an den Intentionen kommen bereits auf, sieht man sich an, um welche Gebiete es sich handelt: Beyoglu gilt als das kulturelle Zentrum des westlichen Teils der Stadt. Der Bezirk umfaßt zum einen den Taksim-Platz, die Nobeleinkaufsstraße Istiklal Caddesi, in deren Umgebung Tausende Bars, Clubs und Restaurants Touristen locken, sowie mittlerweile stark aufgewertete Wohngebiete wie Cihangir. Zum anderen aber befinden sich auch einige der ärmsten Nachbarschaften Istanbuls in Beyoglu, darunter Dolapdere und Kasimpasa.

Dieses Nebeneinander ökonomisch völlig ungleich entwickelter Stadtteile weckt die Begehrlichkeiten der Profiteure der »urbanen Transformation«, wie die türkische Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan den großangelegten Umbauprozeß der Großstädte des Landes nennt. Die »urbane Transformation« ist eines der Kernstücke des brutalen kapitalistischen Aufholprozesses, den die seit zwölf Jahren regierende neoliberal-islamische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) der Türkei verordnet hat. In Beyoglu selbst sind es vor allem zwei Bauprojekte, die in den vergangenen Jahren für Proteste gesorgt haben. Der Aufstand von Millionen Menschen gegen die AKP-Regierung nahm hier im Mai und Juni 2013 seinen Anfang, als auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Einkaufszentrum mit osmanischer Kasernenfassade entstehen sollte. Im Bezirk Tarlabasi zerstörte ein rigides Gentrifizierungsprojekt eine lange gewachsene Stadtteilkultur.

Daß es sich bei dem geplanten Abriß der rund 5600 Häuser in Okmeydani nicht um Vorsichtsmaßnahmen handelt, zeigt auch ein ebenfalls Anfang Juni ergangenes Urteil. Der Staatsrat, eines der obersten türkischen Gerichte, annullierte darin eine Kabinettsentscheidung vom vergangenen Jahr, die den Bezirk Tozkoparan zur Erdbebenzone erklärt hatte. Die Bewohner hatten geklagt und recht bekommen. »Das war nichts anderes als der Versuch, die potentiellen Folgen eines Erdbebens für die Ziele der Immobilienspekulation zu nutzen«, kommentierte Ömer Kiris von der Bürgerinitiative.

Der nun begonnene Angriff auf einige Bereiche Okmeydanis ist allerdings aus einem weiteren Grund noch brisanter: Hier wohnen vor allem Aleviten, die sich von der Regierung ohnehin diskriminiert fühlen. Okmeydani ist zudem eine der Hochburgen der radikalen Linken. Beinahe täglich kommt es hier zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. In einige Straßen kann die Polizei nur mit Unterstützung gepanzerter Fahrzeuge schwer bewaffnet vordringen. Erst am 22. Mai erschoß ein Polizist dort am Rande einer Schülerdemonstration einen Unbeteiligten, ein zweiter Passant starb noch am selben Abend, als er von einer Tränengaskartusche am Kopf getroffen wurde. Angesichts dieser Situation ist zu erwarten, daß der Versuch, in dem Stadtteil 5600 Häuser zu räumen, nicht ohne Widerstand bleiben wird.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juni 2014

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