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Der Intimus des Sultans

Ahmet Davutoglu soll Erdogan in der Türkei als Regierungs- und Parteichef beerben

Von Jan Keetman *

Wenn man ihm begegnet, dann wirkt Ahmet Davutoglu, trotz seiner 55 Jahre noch immer wie ein schüchterner Gymnasiast. Das soll der Mann sein, der die türkische Außenpolitik neu erfunden hat? Der Meisterdiplomat, den sich Nicolas Sarkozy seinerzeit schon mal von der Türkei für eine schwierige Mission in Syrien ausgeliehen hat?

Viel Zeit hat er nicht, aber Davutoglu setzt sich schon mal zu einem Tee dazu und erzählt. Es sind einfache Geschichten. Sie kommen selbstverständlich daher, so, dass man sich automatisch in den Politiker hineinversetzt. Im Plauderton spricht der Mann aus dem zentralanatolischen Konya von seinen Verhandlungen mit den sunnitischen Parteien in Bagdad oder wie er und Recep Tayyip Erdogan den Palästina-Konflikt praktisch gelöst und dann die israelische Regierung in letzter Minute alles verdorben hätte. Das mag alles so gewesen sein oder vielleicht auch ein wenig anders. Aber wie er so erzählt, ist es viel leichter Davutoglu zu glauben, als ihm nicht zu glauben. Auch Davutoglus Aufbruch wirkt völlig unspektakulär. Erst wenn er den Raum verlassen hat, merkt man, dass man doch mit einem großen Diplomaten zusammengesessen hat.

Doch Davutoglu beherrscht nicht nur den diplomatischen Small Talk, er treibt noch mehr die großen Linien der türkischen Außenpolitik voran. Pünktlich zu den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem sich anbahnenden Aufstieg von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) veröffentlichte der damalige Politikprofessor und seit 2009 als Außenminister Amtierende einen dicken Wälzer mit dem Titel »Strategische Tiefe«. In dem Buch warf Davutoglu alles als Ballast über Bord, was dem Denken türkischer Diplomaten bis dahin heilig gewesen war. Es sollte Schluss sein mit dem kleinlichen Gezänke mit den Nachbarn um Fragen, die mehr mit nationaler Ehre als mit ernsthaft verfolgten Interessen zu tun haben: »Null Probleme mit den Nachbarn« lautete Davutoglus Motto. Statt militärische Muskeln zu stärken, sollte die Türkei »Softpower« entwickeln und ihre Rolle als Vorbild für die Region, was ihr nach allen Seiten Vorteile einbringen könne.

Vor allem aber predigte Davutoglu, dass die Türkei nicht zwischen West- und Ostorientierung zu wählen habe, sondern dass sie nur dann im Westen wichtig sei, wenn sie Verbindungen zum Osten habe, und nur dann im Osten wichtig sei, wenn sie Verbindungen zum Westen habe. Politisch wie kulturell sei die Türkei fähig, in beiden Welten zu Hause zu sein. »Als ein Türke bin ich heute Europäer in Brüssel oder Iraker in Bagdad, Bosnier in Sarajevo, Samarkandi in Zentralasien, und das sind keine Identitäten, die miteinander in Konflikt geraten,« so hat es Davutoglu einmal selbst auf den Punkt gebracht.

Aber geht das auf Dauer und wo ist der echte Ahmet Davutoglu? Für viele in der Türkei ist der echte Davutoglu letztlich ein beinharter, religiös orientierter Politiker. Erdogans erster Verteidigungsminister Vecdi Gönül warnte US-Diplomaten vor ihm, er sei »sehr gefährlich«. Seine Politik wurde als »Neo-Osmanismus« kritisiert, als regionales Hegemoniestreben auf den Spuren des Osmanischen Imperiums, verbunden mit der Hinwendung zu einem religiös-konservativen Staats- und Gesellschaftsmodell.

Davutoglu, der während seiner Schulzeit Deutsch lernte und es passabel spricht, ist Diplomat genug, um zu wissen, dass das offene Streben nach einer türkischen Vormachtstellung nur im eigenen Land populär sein kann, nicht aber bei den Nachbarn. Doch als ihn ein westlicher Reporter einmal fragte, ob er vielleicht eine Art »Osmanisches Commonwealth« anstrebe, konnte er nicht Nein sagen.

Dennoch ist Davutoglus Stern als Außenpolitiker erheblich gesunken. Er hat die Dynamiken der Region unterschätzt und konnte nicht der Verlockung widerstehen, im Streit zwischen Sunniten und Schiiten auf die vermeintlich aussichtsreichere sunnitische Karte zu setzen. Nicht zuletzt, da er und sein Chef Erdogan selbst dieser Glaubensrichtung angehören.

Insbesondere hat Davutoglu den Rückhalt des Assad-Regimes in Syrien unterschätzt. Als Assad entgegen den türkischen Erwartungen nicht davon gejagt wurde, begann man in Ankara und anderen Hauptstädten zu zündeln. Radikalislamisten sollten nicht nur Assad vertreiben, sondern auch verhindern, dass unter den syrischen Kurden ein von der PKK dominierter Staat entsteht. Davutoglu streitet zwar jede Beziehung zum »Islamischen Staat« ab. Aber es ist nur zu offensichtlich, dass da ein Experiment, an dem Ankara einst mitgewirkt hat, außer Kontrolle geraten ist. Und es ist nicht einmal klar, ob man bereit ist, diese Karte auf Dauer wegzulegen. Während die Regierung Erdogan nicht müde wird, Israel wegen Gaza zu verdammen, hatte sie jüngst nicht eine Wasserflasche für die Jesiden am Berg Sindschar, gerade vor ihrer Haustüre, übrig.

Ahmet Davutoglus neue Aufgabe als Premier ist wieder eine Art diplomatische Mission. Er soll das Amt, das Erdogan nicht mehr braucht, aber auch nicht sofort abschaffen kann, bekleiden, ohne eigene Interessen zu zeigen und dann ganz unauffällig wieder gehen. Zuvor muss er als neuer Vorsitzender der AKP, zu dem er ebenso in der kommenden Woche gemacht werden soll, aber noch den nächsten Sieg bei der Parlamentswahl 2015 besorgen.

* Aus: neues deutschland, Samstag 23. August 2014


Neo-Osmane übernimmt

Bisheriger Außenminister Ahmet Davutoglu wird neuer türkischer Ministerpräsident

Von Nick Brauns **


Der bisherige Außenminister Ahmet Davutoglu wird neuer Ministerpräsident der Türkei. Diese Entscheidung verkündete der scheidende Premier und zukünftige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Donnerstag nach einer Sitzung des Zentralexekutivkomitees der regierenden »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) in Ankara. Davutoglu soll auf einem außerordentlichen Parteikongreß am 27. August – einen Tag vor Amtsantritt des neuen Präsidenten – auch den Vorsitz der AKP von Erdogan übernehmen. Die Entscheidung sei aufgrund von Davutoglus »Entschlossenheit zur Bekämpfung des Parallelstaates« gefallen, erklärte Erdogan. Gemeint sind die Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, gegen die in den letzten Wochen mehrere Verhaftungswellen erfolgten. Die Loyalität des innerhalb der Regierungspartei über keine eigene Hausmacht verfügenden Davutoglu bei solchen Machtkämpfen ist für Erdogan entscheidend, da er mit der Übernahme der bislang eher repräsentativ angelegten Staatspräsidentschaft zumindest auf dem Papier Machteinbußen gegenüber dem Amt des Ministerpräsidenten hinnehmen muß.

Die von der AKP vor 12 Jahren eingeleitete »große Restaurationsbewegung« werde fortgeführt, versprach Davutoglu nach seiner Nominierung. Der Politikwissenschaftler diente der AKP als außenpolitischer Berater, ehe er 2009 Außenminister wurde. Er gilt als Architekt einer Politik der »strategischen Tiefe«, durch die die Türkei zur neo-osmanischen Führungsmacht in der islamischen Welt aufsteigen soll. Bündnispartner sind hierfür nicht nur die – in Ägypten wieder in die Illegalität gezwungene – Muslimbrüder, sondern auch dschihadistische Gruppierungen, die Ankara vom türkischen Territorium aus gegen syrische Regierungstruppen und kurdische Kantone operieren läßt. Während Davutoglu der Miliz »Islamischer Staat« (IS) vor wenigen Tagen noch attestierte, keine terroristische, sondern eine legitime sunnitische Empörungsbewegung zu sein, wenden sich die Dschihadisten bereits gegen ihre Förderer. Seit zweieinhalb Monaten hält der IS in Mossul 49 türkische Konsulatsangestellte gefangen. Laut einem Bericht der Tageszeitung Taraf habe Davutoglu eingewilligt, für deren Freilassung dem IS das völkerrechtlich als türkisches Territorium geltende Osmanen-Grab von Süleyman Shah im Norden Syriens zu überlassen. Die türkische Regierung dementierte das am Freitag.

Außenpolitisch hinterläßt der scheidende Minister seinem Nachfolger – im Gespräch für den Posten ist Geheimdienstchef Hakan Fidan – ein Trümmerfeld. In der Innenpolitik erfolgt der Amtswechsel zu einem Zeitpunkt, an dem der Friedensprozeß mit der kurdischen Guerilla in eine kritische Phase kommt. Nach mehr als anderhalb Jahren Waffenstillstand attackierten Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Mitte der Woche Militärstützpunkte in vier Provinzen. Dabei wurden nach Angaben der Guerilla mindestens zwölf Soldaten und Polizisten getötet. Die Guerilla rechtfertigte dies als Vergeltung für vorangegangene Übergriffe auf Demonstranten. Am vergangenen Samstag war zum 30. Jahrestag des bewaffneten Befreiungskampfes eine Statue des 1986 gefallenen ersten PKK-Kommandanten Mahsum »Agit« Korkmaz auf einem PKK-Märtyrerfriedhof nahe der Stadt Lice enthüllt worden. Nachdem ein Gericht die Entfernung der Statue angeordnet hatte, griffen Soldaten am Dienstag mehrere tausend Menschen an, die sich zum Schutz des Denkmals versammelt hatten. Ein junger Mann wurde getötet, als die Militärs in die Menge schossen, auch ein Soldat verlor sein Leben.

Erst vor einer Woche hatte sich der inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan nach einem Gespräch mit Geheimdienstchef Hakan Fidan bezüglich einer politischen Lösung der kurdischen Frage optimistisch gezeigt, daß nun die »Schwelle zu einer historischen Entwicklung« überschritten sei. Vizeministerpräsident Besir Ataly kündigte sogar direkte Gespräche mit der PKK-Führung in den nordirakischen Kandil-Bergen an. Vor diesem Hintergrund erscheinen jüngste Militäroperationen ebenso wie die Angriffswelle der Guerilla als wechselseitige Machtdemonstrationen vor der anstehenden Verhandlungsrunde.

** Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014


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