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"Sprachrohr der Zeit"

Gespräch. Mit Muharrem Cengiz. Über die Repression in der Türkei, die Rolle von Musik im revolutionären Kampf und die verschiedenen Einflüsse auf die populäre Band "Grup Yorum" *


Grup Yorum ist die populärste linke Musikgruppe der Türkei, zu ihren Konzerten kommen mehrere hunderttausend Menschen. Am vergangenen Samstag (11. Januar) spielte die Band auf dem Konzert »Lieder gegen den Krieg« im Rahmen der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferzenz in der Berliner Urania.


Seit Jahrzehnten ist Grup Yorum ein wichtiger Teil der sozialistischen revolutionären Bewegung in der Türkei. Können Sie uns ein wenig über die Ursprünge, die Gründung und die Geschichte der Gruppe erzählen?

Grup Yorum wurde 1984 von politisch aktiven Universitätsstudenten gegründet, die an politischer Musik interessiert waren. Die Gründung kann nicht unabhängig von den zeitgeschichtlichen Umständen damals gesehen werden, die vor allem durch den Militärputsch geprägt waren, der 1980 stattgefunden hatte. Die politische Atmosphäre dieser Zeit mit all der Repression, den Folterungen und Grausamkeiten hatten einen großen Einfluß auf die Gruppe.

Damals war auch die Zeit jenes revolutionären Kampfes, der von der Studentengeneration der 1968er eingeleitet worden war, von Mahir Cayan, Ibrahim Kaypakkaya, Deniz Gezmis und vielen anderen revolutionären Anführern. Dieser Kampf war einer gegen die Ungerechtigkeit und den Imperialismus, die Jugend kämpfte für die Unabhängigkeit ihres Landes. Es war eine Zeit großer Proteste, und die Bewegung hatte einen sehr hohen Organisierungsgrad. Das störte die USA, und es kam zum Militärcoup von 1980.

Der hatte eine Reihe von Konsequenzen: Millionen Menschen wurden verhaftet, viele von ihnen wurden gefoltert und in Gefängnisse gesperrt oder getötet. Grup Yorum begann zunächst mit dem Anspruch, das Schweigen über all das zu beenden, als eine alternative Stimme, die von alledem berichten sollte. Die Gruppe sollte ein Sprachrohr ihrer Zeit werden. Anfangs gab es vier Mitglieder, später dann sind wir gewachsen, heute sind wir 13.

Wenn man die Texte von Grup Yorum hört, ist klar, welche politische Strömung die Band beeinflußt hat. Wie aber steht es mit der Musik? Sie machen ja eindeutig türkische Volksmusik, aber ein paar Klänge sind dann doch anders. Welche musikalischen Vorbilder gibt es, welche anderen Gruppen haben Sie und Ihre Kollegen beeinflußt?

Mehrheitlich waren es lateinamerikanische Künstler, Inti-Illimani und Victor Jara, Dichter wie Pablo Neruda und andere revolutionäre Liedermacher und Poeten. Wir verdanken ihnen sehr viel. Aber natürlich liegen unsere Wurzeln in unserem eigenen Land, Anatolien, da, wo wir leben. Hier ist es zum Beispiel Ruhi Su, den wir unseren »Lehrer« nennen, der westliche Instrumente mit traditioneller Volksmusik zusammengebracht hat.

Wir haben Dichter und Künstler, die gegen die Unterdrückung aufstanden und die Geschichte ihrer Zeit schrieben, wie zum Beispiel Pir Sultan Abdal, Dadaloglu, Karacaoglan und von den jüngeren Ruhi Su und Asik Mahzuni Serif.

Der größte Einfluß kommt aber von den Menschen selbst. Wir leben unter ihnen, wir teilen ihr Leid, ihre Freude, ihre Armut. Wir sind Teil des Volks. Wir erzählen, was sie nicht erzählen können, mit unserer Musik.

Und natürlich, unsere Weltanschauung ist marxistisch-leninistisch. Wenn es soviel Hunger, Armut, Unterdrückung in diesem Land gibt, muß man etwas ändern. Wir versuchen, unsere Weltanschauung und unsere Ideen mit unserer Musik zusammenzubringen. Millionen Menschen hören unsere Musik, wir wollen uns da nicht einschränken. Wir nutzen verschiedene Stile, solange wir dadurch mit revolutionären und fortschrittlichen Inhalten zu den Menschen durchdringen können.

Die AKP-Regierung geht derzeit gegen alle möglichen Teile der Zivilgesellschaft in der Türkei vor, gegen Anwälte, Aktivisten, Studenten, Professoren. Wie ist Grup Yorum von dieser Repressionswelle betroffen?

Man kann sagen, daß alle bisherigen Regierungen der Türkei seit Gründung der Gruppe repressiv gegen Grup Yorum vorgegangen sind. Unsere Mitglieder wurden verhaftet, wir wurden verurteilt, weil wir auf Kurdisch gesungen haben, unsere Alben wurden konfisziert, Musikern wurden die Finger gebrochen, Fingerabdrücke wurden von unseren Instrumenten genommen.

Die Repression war also immer da, aber heute hat sie einen Höhepunkt erreicht. In den elf Jahren, seit die AKP nun an der Regierung ist, wurden Revolutionäre im Gefängnis ermordet, andere Gefangene, die krank sind, läßt man einfach im Knast sterben. Die Folterungen von Häftlingen, wie zum Beispiel im Fall von Engin Ceber, zeigen, wie die Repression zugenommen hat. Unsere Musik muß das Ziel haben, all diese Grausamkeiten aufzudecken und öffentlich zu machen.

Im vergangenen Jahr wurde unser Kulturzentrum von der Polizei gestürmt und alles, was sich darin befand, zerstört. Die Polizei hat auch unser neues Album beschlagnahmt, der Rechtsstreit darüber dauert immer noch an. Aber wir denken nicht, daß es jemals irgendein Resultat geben wird. Daß dieses Land faschistisch regiert wird, ist uns klar. Nach dieser Razzia wurden zwei Mitarbeiter des Kulturzentrums, Gamze Keskek und Veysel Sahin, festgenommen, unser Bandmitglied Ayfer Rüzgar ist noch immer in Haft.

Heute sehen wir, daß die AKP nicht länger in der Lage ist, dieses Land zu regieren. Wir haben ja nie geglaubt, daß irgendeine dieser Regierungen die Menschen leiten kann, aber das tritt heute viel klarer hervor. Sie bestehlen die Menschen und überlassen sie der Armut. Korruption, das fehlende Recht auf Bildung, auf Mobilität, auf Leben – sie nehmen uns alles, was fürs Leben notwendig ist.

Aber sie können das nicht länger. Ihnen geht die Macht zunehmend verloren. Allerdings sagen wir auch nicht, daß die AKP gehen und einfach durch eine andere Partei ersetzt werden soll. Wir wollen den Menschen klarmachen, daß unser Kampf darauf gerichtet ist, die ganze herrschende Ordnung umzustürzen. Wir wollen eine Ordnung, in der Menschen ein gerechtes, gutes Leben führen können. Und das ist natürlich nur möglich durch die Revolution und den Sozialismus.

Grup Yorum war beim Gezi-Aufstand vom vergangenen Juni sehr präsent. Überall sind ihre Platten gelaufen, Tausende haben zu den Liedern gesungen und getanzt. Wie sehen Sie »Gezi«, welche Bedeutung hat dieser Aufstand für den revolutionären Kampf in der Türkei?

Wie ich erwähnte, haben wir in Anatolien eine revolutionäre Tradition, eine revolutionäre Vergangenheit. Es gibt ein Erbe der vorhergegangenen Kämpfe, das wir übernommen haben. Die Politik der AKP hat jetzt zu einer Vereinigung verschiedener Teile der Gesellschaft geführt, hat sie näher zusammengebracht.

Der Aufstand hat den Menschen dann eine einfache Wahrheit vor Augen geführt. Er hat gezeigt, was man erreichen kann, wenn man gemeinsam handelt. Die Leute haben begonnen, ihre eigene Kraft zu verstehen. Auf sie wurde geschossen, sie wurden gefoltert, festgenommen, einige sogar ermordet – und trotz alledem sind immer wieder Menschen auf die Straße gegangen. Sie haben klar gesagt: »Ihr könnt uns so nicht regieren.«

Wir waren bei dem Aufstand dabei, diese Zeit hatte durchaus eine Wirkung auf unsere Musik. Wir haben einen Song gemacht, »Lanet«, der davon erzählt. Mit dem Gezi-Aufstand beginnt eine neue Periode der jüngeren Geschichte der Türkei. Aber wie ich gesagt habe, die Probleme werden nicht dadurch gelöst, daß die AKP fällt. Unser Kampf hat das Ziel, daß das Volk sich auf seine eigenen Kräfte besinnt und diese zur Veränderung nutzt. Nur, wenn es gelingt, den Soziaismus zu erkämpfen, wird es ein humaneres Leben geben.

Und auch Künstler und Musiker werden nur im Sozialismus frei und für die Menschen produzieren können. Die Kunst, die heutzutage produziert wird, dient meistens nur einer Handvoll Menschen, der Bourgeoisie.

Grup Yorum hat am 11. Januar auf der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin gespielt. Warum war der Band die Teilnahme am Konzert »Lieder gegen den Krieg« wichtig?

Auch in Deutschland gibt es ernsthafte Angriffe der Herrschenden. Fundamentale Rechte werden der Bevölkerung verwehrt, die Ausbeutung hat zugenommen und ebenso die Fremdenfeindlichkeit. Die Menschen sollten gegen diese Angriffe zusammenstehen, nur mit Solidarität können sie zurückgeschlagen werden. Das Wichtigste ist, daß wir mit dem, was wir tun, den Menschen zeigen, daß Kapitalismus und Imperialismus überwunden werden können. Wir wünschen den Genossinnen und Genossen in Deutschland Erfolg bei ihren Kämpfen.

Interview: Miray Erbey

* Aus: junge Welt, Samstag, 18. Januar 2014


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