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"Wir haben eine neokoloniale Ökonomie"

Heute kommt eine IWF-Delegation nach Tunesien. Land bleibt weiterhin von internationalen Krediten abhängig. Ein Gespräch mit Fathi Chamkhi *


Fathi Chamkhi ist Vorsitzender von ATTAC Tunesien.

Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) besuchen am heutigen Montag Tunesien. Welche Rolle spielt der IWF für das Land?

IWF und Weltbank sind seit 1986 die Herren der Sozial- und Wirtschaftspolitik Tunesiens. Damals wurde das erste Strukturanpassungsprogramm durchgesetzt. Das Land ist seither von ihren Krediten abhängig. Das war unter der alten Regierung des gestürzten Diktators Ben Ali der Fall, und das ist es auch weiter. Gerade ist die Existenz eines Briefes der Regierung an den IWF vom Februar 2013 ans Licht gekommen, unterschrieben vom Finanzminister und vom Zentralbankchef. Es handelt sich um eine Absichtserklärung, einen sogenannten Letter of Intend, in dem die Regierung bestimmte Maßnahmen zusichert, damit sie weitere Kredittranchen ausbezahlt bekommt. Wegen seiner Brisanz hatte man den Brief eigentlich geheimhalten wollen.

Wie sehen die Maßnahmen aus?

Zum Beispiel sind Begünstigungen für ausländische Unternehmen vorgesehen. In den ersten zehn Jahren soll ihnen die Körperschaftssteuer erlassen werden. Einheimische Unternehmen müssen hingegen bisher 30 Prozent von ihrem Gewinn abführen. In den nächsten zwei bis drei Jahren, so die Absichtserklärung, soll für sie der Steuersatz auf 15 Prozent gesenkt werden. Für die ausländischen Unternehmen würde dieser Satz nach Ablauf der Zehnjahresfrist gelten. Ansonsten ist vorgesehen, die Lebensmittelsubventionen abzuschaffen, die Renten und Sozialversicherungsbeiträge zu kürzen und Stellen im öffentlich Dienst zu streichen.

Es scheint, als soll aus Tunesien eine Plattform für Billigexporte gemacht werden.

Ich denke, Tunesien kann als neokoloniale Wirtschaft bezeichnet werden. Besonders seit 1986. Die Ökonomie ist stark auf den Export ausgerichtet, und zwei Drittel der Ausfuhren wird in ausländischen Unternehmen produziert, die allerdings auch auf dem Binnenmarkt tätig sind. Im Land wird natürlich in Dinar abgerechnet, in der tunesischen Währung. Aber die Unternehmen haben das Recht, ihre Gewinne ins Ausland zu transferieren. Das setzt voraus, daß die Zentralbank genug Reserven in ausländischen Devisen hat, und das ist eines unserer Probleme.

Es gibt für Tunesien im wesentlichen vier Devisenquellen: Einnahmen aus dem Export, Überweisungen von Auswanderern, Touristen, die Geld im Inland ausgeben, und die Aufnahme von Schulden im Ausland. In den vergangenen Jahren schwächeln die ersten drei immer mehr. Daher nimmt die Bedeutung der Neuverschuldung zu. In den Jahren 1987 bis 2010 hat die jährliche Schuldenaufnahme im Durchschnitt 1,7 Milliarden Dinar (etwa 850 Millionen Euro) betragen, seit 2011 sind es durchschnittlich 4,1 Milliarden Dinar (rund zwei Milliarden Euro).

Wie sieht es mit der Qualität der Arbeitsplätze und der Wertschöpfung in der Exportindustrie aus?

Die Exportindustrie besteht vor allem aus zwei Branchen: Der Textil- und der Elektroindustrie. Im letzteren Fall geht es vor allem um Montage vorgefertigter, zuvor importierter Teile. Die inländische Wertschöpfung ist also in beiden Fällen begrenzt. Der Automatisierungsgrad in der Textilindustrie ist eher gering, so daß dort viele wenig qualifizierte Beschäftigte arbeiten.

Die entsprechend schlecht bezahlt werden?

Ja. Der Mindestlohn beträgt in ­Tunesien 270 Dinar (135 Euro), aber oft halten sich die Unternehmen nicht daran. Viele Arbeiterinnen verdienen noch weniger als diese 135 Euro im Monat. Außerdem haben sie in der Regel nur Zeitverträge, das heißt, sie können sehr schnell ihren Arbeitsplatz verlieren. Qualifiziertere Angestellte in diesen Unternehmen, Vorarbeiter zu Beispiel, verdienen vielleicht 1000 Dinar (500 Euro) im Monat.

ATTAC existiert in Tunesien seit der Revolution im Januar 2011. Wie hat sich die Organisation seither entwickelt?

Die vergangenen zwei Monate waren sehr anstrengend. Wir haben geholfen das Weltsozialforum zu organisieren, mit dessen Ergebnis wir sehr zufrieden sind. Für die Tunesier war es eine neue Erfahrung. Sie haben in den Europäern einmal nicht Touristen gesehen, sondern Menschen, die mit ihnen für die gleichen Forderungen demonstrieren. Unsere Organisation hat inzwischen einige hundert Mitglieder. Wir beteiligen uns mit verschiedenen linken Parteien an der Front Populaire, der Volksfront, die auch zu den nächsten Wahlen antritt.

Interview: Wolfgang Pomrehn, Tunis

* Aus: junge Welt, Montag, 8. April 2013

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