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Das inszenierte Paradies: Ein Blick hinter die demokratische Fassade Tunesiens

Von Iskra Jedid, Tunis *

Die Idylle täuscht. Hinter der Fassade herrscht seit Jahrzehnten Zine el-Abidine Ben Ali. Nun will er sich erneut zum Präsidenten wählen lassen.

Leise schlagen die Wellen an die Ufersteine und spülen dabei Sandburgen weg. Ein heisser Sommertag neigt sich dem Ende zu. Familien und junge Paare spazieren entlang der gepflasterten Strandpromenade von La Goulette, einer kleinen Hafenstadt im Norden Tunesiens . Es duftet nach Jasmin. Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein. Nur die uniformierten Polizisten mit den Schlagstöcken wollen nicht richtig in das harmonische Bild eines tunesischen Sommerabends passen. Wie fest gepflanzte Bäume stehen sie alle zehn Meter entlang des Boulevards. Ihre scharfen Blicke fixieren die Passant¬Innen und lassen eine unangenehme Ahnung aufsteigen.

Rafik [Name geändert] ist ein 26-jähriger Filmstudent. Aufgewachsen ist er in einem lauten Quartier der Medina, im Süden der Hauptstadt. Er ist ein gewöhnlicher Jugendlicher, der die Verhältnisse seines Landes besorgt beobachtet. «Gerade jetzt, kurz vor den Präsidentschafts- und Legislaturwahlen im Oktober, ist die Unsicherheit der Regierung besonders deutlich zu spüren», sagt er. Sie manifestiere sich in der immer hemmungsloser werdenden Einschüchterung und Unterdrückung der Bürger. Vor allem, wenn diese auch nur eine leise Kritik an der Regierung wagen. Besonders Anwältinnen, Journalisten und Menschrechtsaktivistinnen werden vom autoritären Regime als Gefahr für das tunesische System empfunden und stehen somit in der Schusslinie.

Die Rechtsanwältin Radhia Nasraoui reiste Ende Juni an eine Konferenz nach Genf, um über die Menschenrechtssituation in ihrem Heimatland zu diskutieren. Bei der Rückreise nach Tunesien wurden sie und ihre zwei Begleiter an der Grenze aufgehalten. Sie mussten eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, ihre Computer wurden inspiziert, auf den Boden geworfen und beschädigt. Ein Sicherheitsbeamter verrenkte Radhia Nasraoui den Arm. Ihre Begleiter wurden ins Gesicht geschlagen, beschimpft und während mehrerer Stunden am Flughafen festgehalten. «Die Einschüchterungen sollen die Bürgerinnen und Bürger davon abschrecken, über Missstände zu sprechen oder sich sonst irgendwie gegen die polizeistaatliche Regierung zu wehren», sagt sie.

Ewiger Präsident

Nasraoui amtet als Präsidentin der Organisation für die Bekämpfung der Folter in Tunesien . Immer wieder gerät sie ins Visier der tunesischen Behörden, doch dank ihrer Bekanntheit ist sie relativ gut geschützt. Sie spricht langsam. «Die Folter wird geheim praktiziert und öffentlich abgestritten», so Nasraoui. Deshalb seien dieses Thema und alles, was mit Menschenrechten irgendwie in Verbindung stehe, für die tunesischen MachthaberInnen unangenehm. Weil der Menschenrechtsaktivist Mohammed Abbou mit Artikeln im Internet die Praxis der Folter in Tunesien angeprangert hatte, verbrachte er drei Jahre im Gefängnis. Wer Kritik an der Regierung äussert, bezahlt einen hohen Preis.

Seit über zwanzig Jahren herrscht Zine el-Abidine Ben Ali über das Land der Jasminblumen. Im Oktober möchte er sich zum fünften Mal zum Präsidenten wählen lassen. Durch Änderungen an der Verfassung hat er die Amtszeitbeschränkung aufgehoben. In weiten Kreisen der Bevölkerung wird er verächtlich «der Präsident minus drei» genannt, weil er drei Jahre vor Abschluss wegen schlechter Leistungen von der Schule verwiesen wurde.

Der 73-jährige General, der seine militärische Ausbildung in den USA absolviert hat, weiss, was es für eine Fassadendemokratie braucht. Dabei gilt es, die Illusion einer dynamischen Demokratie zu inszenieren und nach aussen zu tragen, um über die absolutistischen Verhältnisse im Innern des Landes hinwegzutäuschen. Dieses System aus Rhetorik und künstlichem Pluralismus macht Schule: Auch Marokko und Algerien folgen dem tunesischen Beispiel der getarnten Selbstherrschaft und versteckten Repression.

Sorgfältige Kontrolle

Immer wieder hält Ben Ali sogar die Fahne der Menschenrechte hoch. Als er kürzlich eine Rede hielt, sagte er: «Unsere Politik steht im Einklang mit den Menschenrechten. Wir unterstützen alle möglichen politischen Parteien, Organisationen und Vereinigungen.»

Der politische Pluralismus existiert jedoch nur in Ben Alis Rhetorik und in Form künstlich geschaffener Konstrukte: In diesem kleinen nordafrikanischen Land gibt es offiziell acht anerkannte Oppositionsparteien und über 9000 nichtstaatliche Organisationen (NGO). Ein Beispiel: «Jeunes médecins sans frontières» steht in keinem Zusammenhang mit der fast gleichnamigen internationalen Organisation. Staatsbeamt¬Innen steuern die Phantomorganisation, die weder eine eigene Basis hat noch Mitgliederversammlungen abhält. Ihr Zweck besteht ausschliesslich darin, die echte Organisation im Land zu konkurrenzieren.

Ein weiteres Beispiel: Als die grüne unabhängige Partei Tunisie verte gegründet wurde, beeilte sich die Regierung, diese zu verbieten und stattdessen die Parti des verts zu fabrizieren. Echte Oppositionsparteien sind verboten. Die tunesische Opposition ist paralysiert: Sie ist entweder illegal oder verliert sich in einer wirkungslosen Scheinexistenz.

Der Student Rafik zeigt mit dem Finger auf einen pompösen Wolkenkratzer im Zentrum von Tunis . Egal wo man sich in der Stadt gerade aufhält, dieser auffällige Gebäudekomplex ist fast immer auszumachen. Er ist der Hauptsitz des Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), Ben Alis Partei. Sie dominiert die politische Landschaft. Das Hochhaus mit den siebzehn Stockwerken erinnert mehr an ein profitables Unternehmen als an ein Parteibüro. Der Einfluss der RCD reicht in alle Staatsorgane.

Die Regierung überwacht die Schritte der BürgerInnen sorgfältig. Das geschieht entweder offensichtlich durch uniformierte PolizistInnen, so wie in La Goulette, oder durch Zivilpersonen. «Alle wissen, dass sie permanent kontrolliert werden», sagt Rafik. Telefongespräche werden abhört, E-Mails abgefangen. Überall, wo das Alltagsleben stattfindet, lauern Spitzel: Taxifahrer, Zeitungsverkäuferinnen und auch die eigenen NachbarInnen sammeln fleissig Informationen für das Innenminis¬terium. Über Politik spricht deshalb niemand auf offener Strasse, oder nur hinter vorgehaltener Hand.

Auch viele Internetseiten sind gesperrt. «Besonders für uns Jugendliche ist es frustrierend, auf YouTube und Dailymotion verzichten zu müssen. Wir können nicht einmal Musikvideos anschauen», sagt Rafik. Sie hätten mittlerweile herausgefunden, wie die Zensur mithilfe eines Proxyservers umgangen werden kann. Doch es sei sehr umständlich. Der Zugang zum sozialen Netzwerk Facebook sei ebenfalls lange gesperrt gewesen. Laut Gerüchten soll die Tochter des Präsidenten die Plattform für sich und ihre FreundInnen entdeckt und den freien Zugang durchgesetzt haben. Seither formieren sich Gruppen auf Facebook, welche die «Befreiung von der Zensiermaschine Ammar» fordern und sich virtuell für den «Traum eines freien Tunesien » einsetzen (vgl. Kasten links unten).

Die Medienlandschaft steht vollständig unter dem Diktat der Staatspropaganda. Jeden Morgen grinst der Präsident auf der Aufschlagseite der staatlichen Zeitung «La Presse». Das Blatt ist voller Lobeshymnen für den Staatschef. Informationen über die reellen Tätigkeiten der Regierung bleiben den Leser¬Innen verwehrt: Staatsbesuche werden blumig beschrieben, doch von abgeschlossenen Verträgen oder laufenden Verhandlungen steht nichts.

Einen unabhängigen Blickwinkel einzunehmen, gelingt nur wenigen Zeitungen, wie «Al-Maoukif» oder «Attariq Aljadid». Sie berichten kritisch - immer wieder werden deshalb Ausgaben konfisziert. Dass diese Blätter nicht ganz verboten werden, gehört zur Strategie der Regierung, die eine vielfältige Medienlandschaft vortäuschen will. Das hat auch Rachid Khechana, Chefredaktor von «Al-Maoukif», erkannt: «Die wenigen unabhängigen Zeitungen werden immer dann vorgezeigt, wenn die Regierung sich gegen Zensurvorwürfe wehren möchte. Sie würde uns gerne schliessen, doch das würde ihrem Ruf im Ausland schaden.»

Aufstand in Gafsa

Der Polizeistaat stösst mit seinen repressiven Methoden jedoch auch auf Widerstand. In Reyedef, einer Bergbauregion im südwestlichen Gafsa, kam es letztes Jahr zu heftigen Protesten. Auslöser für die Unruhen waren die ungerechten Einstellungsverfahren der staatlichen Phosphatgesellschaft in Gafsa, dem wichtigsten Unternehmen in der Region. Hier beträgt die Arbeitslosigkeit bis zu vierzig Prozent. Besonders betroffen sind junge HochschulabsolventInnen. Nachdem bekannt wurde, dass neu zu besetzende Arbeitsstellen an Verwandte von Betriebsleitungsmitgliedern vergeben worden waren, eskalierte die Situation. «Als die Revolte ausbrach, wollten wir nach Gafsa fahren, um die Demonstranten zu unterstützen, doch alle Wege aus der Hauptstadt waren blockiert», erzählt Rafik. Die Ausschreitungen dauerten mehrere Monate. Dabei wurden drei Menschen getötet, zahlreiche verwundet und mehrere Hundert DemonstrantInnen festgenommen. In Massenprozessen wurden sie teilweise zu Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt. Bei Rafik und seinen FreundInnen haben die Ereignisse von Gafsa einen tiefen Eindruck hinterlassen: «Sie haben gezeigt, dass wir nicht alles mit uns machen lassen», sagt er.

Das alles geschieht in einem Land, das von der EU als Musterbeispiel für «stabile Wirtschaft und erfolgreiche Entwicklungspolitik» angeführt wird. Die EU, allen voran Italien, Deutschland und Frankreich, hat einen Anteil von fast achtzig Prozent am tunesischen Handelsvolumen. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Ben Ali pflegen eine langjährige Freundschaft. Zum französischen Nationalfeiertag im Juli drückte der tunesische Staatschef seine «tiefe Zufriedenheit über die traditionelle Beziehung» zu Frankreich aus und hoffte «auf eine weiterhin fruchtbringende Zusammenarbeit» zwischen den beiden Staaten.

Ausserdem gilt Tunesien im europäischen Raum als touristisches Paradies. Mehr als sieben Millionen Touristen pilgern jedes Jahr ins tunesische Sonnenland. Auch Schweizer Reiseagenturen werben mit auffälligen Strassenplakaten für «Traumferien im nahen Tunesien ».

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. September 2009


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