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Kompromiß in Tunesien

Regierende Ennahda-Partei stellt Dialog mit der Opposition, eine neue Verfassung und Neuwahlen in Aussicht

Von Gerrit Hoekman *

In Tunesien ebbt der Protest gegen die islamisch-konservative Regierungspartei Ennahda offenbar ein wenig ab. Zwar kamen auch am Wochenende wieder über 10000 Menschen in Tunis zusammen, doch es waren deutlich weniger als in den Wochen zuvor, als Hunderttausende den Rücktritt der Islamisten und Neuwahlen forderten. Die Massendemonstrationen hatten begonnen, nachdem am 25. Juli der linke Oppositionspolitiker Mohammed Brahimi vor seinem Haus von Attentätern erschossen worden war. Die Opposition vermutet die Täter im Umfeld der Ennahda, die Regierung verdächtigt radikale Salafisten. Brahimi war bereits der zweite linke Politiker, der in diesem Jahr einem Anschlag zum Opfer fiel. Im Februar war Shukri Belaid von bis heute Unbekannten ermordet worden.

Unter dem Druck der Straße hat sich die Ennahda in der vergangenen Woche bereit erklärt, mit der Opposition in einen nationalen Dialog zu treten, an dessen Ende dann Neuwahlen stehen sollen. Bis dahin soll ein neu zusammengestelltes »Expertenkabinett« die Amtsgeschäfte leiten. Das Parlament wird erst aufgelöst, wenn der Termin für Neuwahlen feststeht. Außerdem soll bis dahin eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Diesen Kompromiß hatte die einflußreiche Gewerkschaft UGTT als Vermittler gemeinsam mit den Islamisten ausgehandelt. Seine Partei habe den Vorschlag als »Startpunkt zur Lösung der politischen Krise akzeptiert«, sagte Ennahda-Chef Rashid Ghannouchi im österreichischen Fernsehen.

Viele Tunesier scheinen damit erst einmal zufrieden zu sein und blieben am Wochenende vielleicht deshalb zuhause. Die »Nationale Errettungsfront«, in der sich ein großer Teil der säkularen Opposition in Tunesien zusammengeschlossen hat, lehnt das Angebot jedoch ab. Ihre Anhänger skandierten während des Protestmarsches zum Parlament »Das Volk will das Regime stürzen!« und schimpften Ghannouchi einen »Mörder«. Die Demonstration war der Auftakt zur »Woche des Abschieds«, in der die Opposition die Islamisten zum Abdanken zwingen will. »Wir werden den Druck aufrechterhalten, um eine Auflösung der Regierung zu erreichen«, sagte Jilani Hammami von der Arbeiterpartei Tunesiens. Ein weiterer Grund: Die wirtschaftlichen Probleme haben unter den Islamisten enorm zugenommen.

Auch eine andere einflußreiche Oppositionspartei der Nationalen Errettungsfront, Nidaa Tounis, bezeichnet das Angebot der Islamisten als »nicht ernsthaft«. Nidaa Tounis wäre bei den kommenden Wahlen die vermutlich schärfste Konkurrentin der Islamisten. Die Partei besteht aus gemäßigten Linken, Linksliberalen und ehemaligen Mitgliedern der Dustur-Partei des verjagten tunesischen Alleinherrschers Ben Ali.

Vor zwei Wochen kam es bei der Opposition zu Irritationen, als sich Ghannouchi in Paris überraschend mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Beji Ciad As-Sebsi traf, dem Führer von Nidaa Tounis. Tunesischen Zeitungen zufolge waren erhebliche diplomatische Anstrengungen der US-Botschaft und des deutschen Außenministeriums nötig, um das Treffen überhaupt möglich zu machen. Wie hinterher in der tunesischen Presse durchsickerte, soll es bei dem Tête-à-tête in Paris um eine Regierungsbeteiligung von Nidaa Tounis gegangen sein. Ghannouchis Angebot: Der islamistische Ministerpräsident Ali Laarayedh bleibt im Amt. Staatspräsident Munsif Marzouki muß seinen Platz für den 86 Jahre alten As-Sebsi räumen, dem viele Beobachter ohnehin eher zutrauen, das Land zu einen.

Doch offenbar gibt es in der eigenen Partei wenig Verständnis für den Plan des greisen Al-Sebsi. »Wir streben nach keinem Posten«, sagte ein hochrangiges Mitglied, kurz nachdem die tunesischen Medien von dem vermeintlichen Treffen berichtet hatten. »Wir haben diese Option immer abgelehnt.« Man dürfe sein Image nicht durch ein Bündnis mit den Islamisten ruinieren, meinen nicht wenige bei Nidaa Tounis und verweisen auf das Beispiel der Sozialdemokraten, die ihre Koalition mit der Ennahda-Partei erhebliche Sympathien gekostet hat.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 28. August 2013


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