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Parteisymbole landeten im Straßenstaub

Politische Gefangene freigelassen, doch weiter Misstrauen gegenüber Tunesiens neuer Regierung

Von Claudia Altmann, Tunis *

In Tunesiens neuer Übergangsregierung ist zwei Tage nach der Vereidigung schon wieder ein Minister zurückgetreten. Nach Angaben des Fernsehens legte am Donnerstag (20. Jan.) der Staatsminister für lokale Verwaltung, Zouheir M'Dhaffer, ohne Angaben von Gründen sein Amt nieder. Er hatte sich zuvor als Propagandist der alten Regierung von Ex-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali hervorgetan und galt als kompromittiert.

Unter dem Jubel tausender Demonstranten stürzten gestern (20. Jan.) die riesigen Lettern der einstigen Regierungspartei Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) vom Gebäude der Tuniser Parteizentrale in die Tiefe. Wie bereits in den Tagen zuvor forderten die Demonstranten die Auflösung der politischen Organisation des gestürzten Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Die Proteste entzünden sich vor allem an der Beteiligung von RCD-Kadern in der Übergangsregierung von Premierminister Mohamed Ghannouchi. Dieser war am Dienstag zwar aus der Partei ausgetreten, hatte damit jedoch nicht das Vertrauen der aufgebrachten Bevölkerung zurückgewinnen können.

Am selben Tag legte einer der sechs von ihm ernannten RCD-Minister ebenfalls seine Mitgliedschaft in der Partei nieder. Vor allem das Verbleiben des noch von Ben Ali kurz vor dessen Flucht nach Saudi-Arabien ins Amt gehobenen Innenministers schürt bei den Menschen großes Misstrauen und mindert weiter die Glaubwürdigkeit des Kabinetts. Auch die Zusicherung von Interimspräsident Fouad Mebazaa, die neue Führung stünde für »einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit«, beruhigte die Gemüter nicht.

In Tunis und anderen Städten des Landes kam es erneut zu Protestmärschen. Im Fernsehen hatte Mebazaa versprochen, es gebe »kein Zurück«. Die Regierung werde den Willen des Volkes respektieren. Das Fernsehen präsentierte zudem beschlagnahmte Luxusgüter Ben Alis und seiner Frau Leila Trabelsi, darunter Schmuck, Uhren und Kreditkarten. Eine Untersuchung über den von beiden Familien in Tunesien und im Ausland »erworbenen« Besitz sei in Vorbereitung, verlas der TV-Sprecher. Landesweit sollen 33 Mitglieder der Familie verhaftet worden sein. Sie sollen wegen »Verbrechen gegen Tunesien« vor ein Gericht gestellt werden.

Wie von Mebazaa ebenfalls angekündigt, wurden gestern die ersten politischen Gefangenen auf freien Fuß gesetzt. Vor dem Gefängnis im Tuniser Vorort El Moghnagia warteten zahlreiche Familienangehörige auf die Freigelassenen. Unter dem Regime Ben Alis waren zahlreiche Oppositionelle aller Couleur hinter Gitter gebracht worden. Bei vielen hatte bereits der geringste Verdacht für eine Verurteilung genügt. So auch im Fall des 20 Jahre alten Larbi Khemira aus dem 550 Kilometer südlich von Tunis gelegenen Tataouine. Dem Studenten der Islamwissenschaften an der Kairoer Al-Azhar-Universität waren »terroristische Aktivitäten« zur Last gelegt worden. Er war in Ägypten verhaftet und ausgewiesen und anschließend von einem tunesischen Gericht verurteilt worden. »Ich habe mich nie politisch engagiert und werde das auch künftig nicht tun«, erklärte er gegenüber ND. »Mich hat nur mein Religionsstudium interessiert, das ich jetzt hoffentlich zu Ende bringen kann.«

Unterdessen kehrt für die Menschen allmählich wieder Normalität im Alltag ein. Allerdings sind Schulen und Universitäten nach wie vor geschlossen. In den meisten Vierteln von Tunis und Umgebung waren gestern die Geschäfte geöffnet. Engpässe gibt es aber vor allem in der Lebensmittelversorgung. Bäcker und Gemüsehändler haben ihre Preise teilweise vervierfacht. Viel mehr beunruhigt die Bevölkerung jedoch die instabile Sicherheitslage. Vor allem in den armen Vierteln der Hauptstadt sind die Menschen mit wachsender Kriminalität konfrontiert.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Januar 2011

Der Karthager

Roland Etzel **

»Ich verpflichte mich persönlich, dass die Übergangsregierung einen totalen Bruch mit der Vergangenheit vollzieht.« Das war der Kernsatz Fouad Mebazaas am Mittwochabend in seiner ersten Fernsehansprache als Interimspräsident Tunesiens; ein seriös dreinblickender älterer Herr, in Diensten Ben Alis ergraut – ob auch in Ehren, das werden seine inzwischen gegenüber allen alten und neuen Amtsträgern höchst misstrauischen Landsleute prüfen.

Nun hat Mebazaa zwar gesagt, die Übergangsregierung – der er formell ja nicht angehört – habe den Bruch zu vollziehen, aber er hat sich gewiss auch selbst gemeint. Für den 77-Jährigen bedeutete dies aber nicht weniger, als sein bisheriges politisches Wirken in Frage zu stellen. Denn seit es Tunesien als Staat gibt, vertrat er diesen – und stets sehr weit oben.

Schon vor Erlangen der Unabhängigkeit 1957 bekleidete der studierte Jurist Funktionen in der Bewegung von Staatsgründer Habib Bourguiba, die dann unter sich wandelnden Parteinamen bis gerade eben als präsidiales Machtorgan wirkte. Das Vertrauen Bourguibas wie das von dessen präsidialem Nachfolger Zine el-Abidine Ben Ali hatte er offenbar immer.

Mit 31 Jahren wurde er 1964 Mitglied des Zentralkomitees seiner Partei, zehn Jahre später rückte er in deren Politbüro auf. In der Regierung gibt es kaum ein Ressort, um das er einen Bogen gemacht hätte. Mebazaa startete als Chef des Nationalen Sicherheitsbüros von 1965-67, war 1970-81 nacheinander Minister für Jugend und Sport, für Gesundheit, für Information und Kultur. In den 80ern vertrat er sein Land als Botschafter in Marokko und bei der UNO. Dass er heute Übergangspräsident ist, verdankt er einer weiteren Säule seiner ungebrochenen Karriere: der Mitgliedschaft im Parlament, dessen Präsident er zuletzt war – und damit auch des Landes bei »Abwesenheit« des Staatsoberhauptes wie zur Zeit.

Zwischendurch und nebenbei war Mebazaa auch für jeweils mehrere Jahre Bürgermeister verschiedener Städte. Die kleinste davon war das große Karthago. Er hat aber versprochen, keine Kriege, sondern sein Land zu einem frei gewählten Parlament zu führen – vorausgesetzt er gewinnt die Akzeptanz, dafür Moderator sein zu dürfen.

** Aus: Neues Deutschland, 21. Januar 2011



Neuer Aufruhr in Tunis

Von Arnold Schölzel ***

In Tunesien gehen die Proteste gegen die neue Regierung unvermindert weiter. In der Hauptstadt Tunis gab die Armee Warnschüsse ab, um eine Demonstration von mehr als tausend Personen aufzulösen. »Das Volk will den Rücktritt der Regierung«, skandierten die Demonstranten mit Blick auf das Übergangskabinett unter dem vorläufigen Ministerpräsidenten Mohammed Ghannouchi. »Verräter, wir haben keine Angst mehr vor euch«, war auf Transparenten zu lesen. Den Demonstranten gelang es erstmals seit dem 14.Januar, dem Tag der Flucht von Präsident Zine El Abidine Ben Ali, zum Innenministerium vorzudringen und ihren Marsch bis zum Sitz der seit 23 Jahren regierenden Partei RCD fortzusetzen. Sie forderten erneut den Rückzug aller RCD-Anhänger aus der Politik. Auch in der 350 Kilometer südlich gelegenen Stadt Gafsa versammelten sich bis zu 4000 Demonstranten, wie Organisatoren berichteten. Sie forderten den Rücktritt aller Minister, die mit Ben Ali zusammengearbeitet haben. Die betreffenden Politiker kamen der Forderung nicht nach, erklärten aber ihren Austritt aus der Partei, der RCD. Deren Führungsspitze löste sich daraufhin auf. Am Donnerstag nachmittag trat das Kabinett von Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi erstmals zusammen. An der Sitzung nahm auch Übergangspräsident Fouad Mebazaa teil. Mebazaa und Ghannouchi hatten die Partei bereits am Dienstag (18. Jan.) verlassen. Sie war am selben Tag aus der Sozialistischen Internationale ausgeschlossen worden, der sie seit den 70er Jahren angehört hatte.

Die Armee hatte in der Nacht viele Panzer aus dem Stadtzentrum abgezogen. Ein Oberst rief der jubelnden Menge zu, daß die Soldaten auf ihrer Seite stünden und nicht schießen würden. AFP zitierte u.a. Mohammed Lakdhar Allala, Führungsmitglied der ehemals kommunistischen Partei Ettajdid (Erneuerung), der die Rolle der Armee, die Druck auf Ben Ali ausgeübt habe, als »positiv« bezeichnete. Auf dem Höhepunkt der Krise soll der Generalstabschef des Heeres, Rachid Ammar, vorige Woche Ben Ali den Gehorsam verweigert und sich der Anweisung, seinen Soldaten die Unterdrückung der Proteste zu befehlen, widersetzt haben. Der tunesischen Armee gehören knapp 35000 Soldaten an, während Ben Alis Polizei- und Staatssicherheitsapparat bis zu 170000 Angehörige umfassen soll.

In Frankreich ist eine heftige politische Auseinandersetzung über die Rolle der Regierung während des Umsturzes in Tunesien entbrannt. Kulturminister Frédéric Mitterrand – selbst Besitzer einer Villa in Tunis– erklärte, er habe nie verschwiegen, daß die Regierung Ben Alis ihm in den 90er Jahren die tunesische Staatsbürgerschaft gegeben habe. »Aber ich habe keinen Kompromiß gemacht«, verteidigte sich der Neffe des ehemaligen Staatspräsidenten François Mitterrand. Er hatte noch am 10.Januar erklärt, in Tunesien herrsche keine Diktatur. Außenministerin Michèle Alliot-Marie hatte Ben Ali am Dienstag (11. Jan.) vor dessen Sturz französische Unterstützung angeboten. Sie hatte in der Nationalversammlung erklärt: »Das in der ganzen Welt anerkannte Wissen der französischen Sicherheitskräfte könnte helfen, solche Sicherheitsprobleme zu lösen.« Sie habe die Entwicklung nicht kommen sehen, verteidigte sich die Ministerin später. Die Sozialistische Partei forderte am Donnerstag (20. Jan.) erneut ihren Rücktritt.

*** Aus: junge Welt, 21. Januar 2011


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