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Attacken auf Parteibüros

Gewaltsame Proteste nach Wahlsieg der islamischen An-Nahda in Tunesien

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Nach dem Sieg der islamischen Partei An-Nahda bei den am vergangenen Sonntag (23. Okt.) durchgeführten Wahlen in Tunesien ist es am Donnerstag abend in Sidi Bouzid im Zentrum des Landes zu Protesten gekommen. Rund 2000 Demonstranten seien zum Büro der Partei marschiert, hätten Fenster eingeworfen, Türen aufgebrochen und auf der Straße Autoreifen angezündet, berichteten übereinstimmend die Nachrichtenagentur AFP und die staatliche tunesische TAP. Auch das Innenministerium bestätigte die Unruhen. Die Polizei ging mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor, die mit Steinen warfen. Ähnliche Auseinandersetzungen wurden auch aus dem Ort Regueb gemeldet, der etwa 50 km von Sidi Bouzid entfernt liegt. Dort soll auf das Parteibüro auch geschossen worden sein. In Sidi Bouzid hatten vor knapp einem Jahr die Proteste gegen den damaligen Machthaber Zine Al-Abidine Ben Ali begonnen.

Die jüngsten Auseinandersetzungen begannen, nachdem die Wahlkommission der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung wegen »finanzieller Unregelmäßigkeiten« sechs ursprünglich als gewonnen gemeldete Sitze aberkannt hatte. Die Organisation, die von dem in London lebenden Geschäftsmann Haschemi Hamdi geführt wird, hatte in Sidi Bouzid mehrere Mandate gewonnen und war mit 19 viertstärkste Partei in der verfassungsgebenden Versammlung geworden. Hamdi soll dem früheren Machthaber Ben Ali nahegestanden haben und hatte seinen Wahlkampf aus London über einen privaten Fernsehsender geführt. Aus Protest gegen die Entscheidung der Wahlkommission kündigte er an, auf alle gewonnenen Mandate zu verzichten.

Die unter Ben Ali verbotene An-Nahda hatte sich erst im März dieses Jahres neu konstituiert. Dennoch galt sie von Anfang an als die am besten organisierte Partei in Tunesien. Aus den Wahlen ging sie dem am Freitag veröffentlichten offiziellen Endergebnis zufolge mit 41 Prozent deutlich als Sieger hervor. Sie erhält 90 der 217 Sitze in der gewählten Versammlung. Parteichef Raschid Ghannouchi kündigte an, innerhalb eines Monats eine Koalitionsregierung bilden zu wollen. Gegenüber TAP meldete An-Nahda-Generalsekretär Hammadi Dschebali den Führungsanspruch seiner Partei in dieser an. »In allen Demokratien der Welt« sei es üblich, daß die bei Wahlen stärkste Kraft den Ministerpräsidenten stelle. Auf Platz zwei landete der säkulare Republikanische Kongreß mit 14 Prozent und 30 Sitzen, gefolgt von der linksorientierten Ettakatol, die zehn Prozent und 21 Sitze erhielt. Insgesamt werden 25 Parteien und Vereinigungen im Parlament vertreten sein, 14 davon mit nur einem Abgeordneten. Die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) erreichte drei Mandate.

Die Versammlung soll ein neues Grundgesetz für Tunesien ausarbeiten, und sie wird einen Präsidenten sowie eine Übergangsregierung bestimmen, die bis zu ordentlichen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Amt sein sollen.

* Aus: junge Welt, 29. Oktober 2011


Religiöse suchen Partner

Tunesische Siegerpartei Ennahdha muss koalieren **

Nach dem Wahlsieg der Religiösen in Tunesien werden mit Spannung die Verhandlungen über die Bildung einer neuen Übergangsregierung erwartet.

Der umstrittenen Ennahdha-Partei um Spitzenpolitiker Rachid Ghannouchi fehlen 19 Sitze, um bei Abstimmungen in der verfassunggebenden Versammlung auf eine absolute Mehrheit zu kommen. Sie soll im November zum ersten Mal zusammentreten und auch eine neue Übergangsregierung bestimmen.

Nach dem in der Nacht zum Freitag veröffentlichten vorläufigen Endergebnis kommt die Ennahdha- Bewegung selbst auf 90 der 217 Sitze (41 Prozent) und hat damit dreimal so viele wie die zweitstärkste politische Kraft. Unter dem im Januar gestürzten Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali galt Ennahdha (Wiedergeburt) als extremistisch und war verboten.

Möglicher Koalitionspartner ist die sozialdemokratische Partei Ettakatol, die mit 21 Sitzen drittstärkste Partei wurde. Sie führt nach eigenen Angaben bereits Gespräche mit der Ennahdha über die Bildung der Übergangsregierung. Parteichef Mustapha Ben Jaâfar gilt als möglicher neuer Übergangspräsident. Zweitstärkste Partei nach der Ennahdha wurde die Mitte-Links-Partei Kongress für die Republik (CPR) unter Führung des Medizinprofessors Moncef Marzouki mit 30 Sitzen. Ein Ennahdha-Sprecher sagte, man werde Kontakt zu allen Parteien suchen. Ziel sei eine Regierung der nationalen Einheit. Für den Posten des Regierungschefs brachte sich bereits der Generalsekretär der Ennahdha-Bewegung, Hammadi Jébali, ins Spiel.

Liberale Tunesier befürchten im Falle einer islamisch geprägten Regierung einen dramatischen Wandel des Landes – bis hin zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot. Konkrete Hinweise auf drohende Einschnitte der Bürger- und Freiheitsrechte gibt es bislang allerdings nicht. Im Wahlkampf gab sich die Ennahdha-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP.

Kurz nach Bekanntgabe des Sieges von Ennahdha haben sich in der Stadt Sidi Bouzid mindestens 2000 junge Menschen an zum Teil gewalttätigen Protesten beteiligt. Die Demonstranten marschierten zum dortigen Sitz der Partei und warfen Steine auf Angehörige der Sicherheitskräfte.

** Aus: Neues Deutschland, 29. Oktober 2011


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