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Aufbruch in Tunis

Hintergrund. In Tunesien stürzte die Bevölkerung ein neoliberales, autoritäres Regime – und entfachte so den Funken, der auf die gesamte arabische Welt übersprang

Von Werner Ruf *

Am 14. Januar 2011 floh der vormalige tunesische Präsident, Zine El Abidine Ben Ali, feige wie ein Dieb in der Nacht. In seiner Begleitung verließen auch seine zweite Ehefrau Leila Trabelsi mit ihren Brüdern, Töchtern und deren Partner das Land. Die Trabelsi-Sippe galt als der eigentliche Kern der kleptokratischen Herrschaft, hatte sie sich doch nahezu alles angeeignet, was in der Republik greifbar war. Die tunesische Wirtschaft basierte zu Zeiten des von ihm weggeputschten Vorgängers Habib Bourguiba (Präsident von 1957 bis 1987) vor allem auf Staatsbetrieben. Ben Ali »privatisierte« diese Betriebe. Privatisierung hieß in diesem Fall, daß an die Spitze der Unternehmen getreue Lakaien des herrschenden Clans gesetzt wurden, meist Mitglieder der Trabelsi-Familie.

Banken – oft mit Kapital aus den Golfstaaten gegründet – schossen wie Pilze aus dem Boden, im Aufsichtsrat saßen stets die üblichen Vertreter des zahlreichen Trabelsi-Clans. Ihnen gehörten außerdem Hotels, Fluglinien, Supermarktketten. Leilas Bruder Belhassen war Chef der Bank von Tunesien, was die illegalen Transfers der Familie ins Ausland erleichterte. Die Familie scheute auch nicht davor zurück, von privaten Immobilien Besitz zu ergreifen, deren rechtmäßige Bewohner teils von Schlägertrupps vertrieben wurden. Selbst die staatlichen Besitztümer wurden geplündert: Weltberühmte Exponate aus der Römischen Epoche des Landes wurden in den Privatbesitz der Präsidentenfamilie überführt und zierten die Vitrinen im Präsidentenpalast. Im als Weltkulturerbe ausgewiesenen Gebiet des historischen Karthago ließ einer der Trabelsi-Söhne Luxusvillen bauen – ohne daß die UNESCO dem Standort seinen Status entzogen hätte. Ihren letzten Coup landete Leila vier Tage vor ihrer Flucht, als sie den Präsidenten der Zentralbank zwang, die Goldreserven des Landes, 1,5 Tonnen Gold im Wert von 45 Millionen Euro herauszugeben, die sie sodann ins sichere Dubai ausfliegen ließ.

Hemmungslose Kleptokratie

Ben Ali selbst, der durch Verfassungsänderungen kontinuierlich seine Wiederwahl sicherte, änderte 2001 den Artikel 41 der Verfassung. Schon zuvor besaß der Präsident strafrechtliche Immunität. Diese galt nunmehr auch »nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seiner Funktionen begangen hat«. Dem Staatsoberhaupt darf also durchaus Vorsatz unterstellt werden. Schon früh hatte der Präsident außerdem seinen eigenen »Rettungsschirm« geschaffen, den schon 1993 eingerichteten »Fonds für nationale Solidarität«, nach seiner Kontonummer kurz 26/26 genannt.

Die auf das Konto eingezahlten »Spenden« waren nicht freiwillig, sondern Unternehmen, Staatsbedienstete und Freiberufler wurden auf der Grundlage einer Tabelle veranlagt. Wer nicht zahlte, wurde bestraft: Unternehmen mit Steuernachzahlungen, Staatsbedienstete mit Entlassung. Der Fonds stand allein dem Präsidenten zur Verfügung, der daraus bisweilen – öffentlichkeitswirksam inszeniert – Wohltaten an Arme verteilte. Die Masse des Geldes verblieb jedoch in seiner Schatulle, da es keinerlei Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel gab. Die jährlichen Einnahmen werden auf rund 30 Millionen Euro geschätzt.

Tunesien galt während der ganzen Regierungszeit Ben Alis als Musterland. In ihrem Bericht zum Jahreswechsel 2009/2010 jubelt die bundeseigene Germany Trade and Invest (vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation, bfai), daß Tunesien in dem vom Weltwirtschaftsforum herausgegebenen Global Competitiveness Report 2009 abermals zum wettbewerbsfähigsten Land Afrikas gekürt worden ist. (Siehe bit.ly/jwtunesien, S. 5.)

Der Bericht fährt fort: »Die Lohnkosten (...) sind im internationalen Vergleich günstig (...). Denn: Erhöhungen bei Löhnen konnten bislang durch eine kontinuierliche Abwertung des tunesischen Dinar ausgeglichen werden.« Auch liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei durchschnittlich 2000 US-Dollar und damit weit über dem Durchschnitt der Länder des Maghreb. Während der letzten zehn Jahre verzeichnete Tunesien nach offiziellen Zahlen ein kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum von etwa vier Prozent. Immerhin räumt die Agentur ein, daß eine abschließende Beurteilung der Entwicklung »problematisch« ist: »Zu stark sind die Abweichungen zwischen den deutschen und den tunesischen Angaben.« Diese Zweifel unterstreichen die Aussagen tunesischer Ökonomen, die behaupten, die tunesischen Angaben vor allem gegenüber IWF und Weltbank seien in hohem Maße manipuliert. Aufschlußreich ist ein inzwischen erstellter Bericht des tunesischen Arbeitgeberverbandes UTICA (Union Tunisienne de l’Industrie et de l’Artisanat), dem zufolge 40 Prozent der tunesischen Betriebe unter Kontrolle des Trabelsi-Clans standen. Dies galt selbstverständlich nur für die lukrativen Betriebe. Die Studie kommt zu dem Schluß, daß viele Betriebe nicht investierten oder modernisierten, um dadurch zu vermeiden, zum Zielobjekt der Mafia der Präsidenten-Gattin zu werden. Die Schlußfolgerung lautet: Hätten diese Betriebe sich unternehmerisch und marktkonform verhalten (können), hätten rund 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können– eine bemerkenswerte Zahl in einem Staat mit zehn Millionen Einwohnern.

Wie es in Wirklichkeit um die tunesische Wirtschaft bestellt war, müßten Weltbank und IWF jedoch längst wissen: Tunesische Ökonomen verweisen in einer soeben vorgelegten Publikation auf eine Studie, die von IWF und Weltbank in Auftrag gegeben wurde. Diese kommt zu dem Ergebnis, daß durch kriminelle Machenschaften in den Jahren 1999 bis 2008 gigantische Summen dem tunesischen Wirtschaftskreislauf entzogen wurden. Es dürfte unwahrscheinlich sein, daß Weltbank und IWF die von ihnen selbst in Auftrag gegebene Studie nicht kannten. Die Plazierung Tunesiens als Musterland und die Mär vom »tunesischen Wirtschaftswunder« wie die (verlogenen) Lobeshymnen der internationalen Finanzinstitutionen dürften also keineswegs auf den wirtschaftlichen Leistungen, sondern auf rein politischen Gründen basieren.

Neoliberaler Musterschüler

Tunesien galt als Beweis für die Richtigkeit neoliberaler Wirtschaftspolitik: Nicht nur wurden die Staatsbetriebe systematisch privatisiert, auch im Rahmen des »Barcelona-Prozesses« war Tunesien Musterschüler. Dieser Prozeß wurde 1995 von der EU initiiert und sollte zu einer umfassenden »Partnerschaft« zwischen der EU und den sogenannten Mittelmeerdrittländern (MDL) führen. Die Liberalisierung des Außenhandels einerseits und die Bildung von «Freien Produktionszonen” andrerseits, in denen nationale Gesetze zum Arbeitsschutz, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation etc. nicht gelten, benachteiligen strukturell die einheimischen Betriebe, die dadurch gegenüber den ausländischen weniger konkurrenzfähig sind. Als erstes »Mittelmeerdrittland« hat Tunesien am 1.3.1998 mit der EU ein sogenanntes Europa-Mittelmeer-Abkommen in Kraft gesetzt, das binnen zwölf Jahren zur vollständigen Verwirklichung einer Freihandelszone mit der EU führen sollte. Ausgenommen blieben aufgrund des Drucks der europäischen Agrarlobby landwirtschaftliche Produkte wie Zitrusfrüchte und Olivenöl, was eine schwere Behinderung für die Exportwirtschaft Tunesiens darstellt. Hinzu kommt der Anpassungsdruck an den europäischen Markt und die beschränkte Konkurrenzfähigkeit gerade der – im Vergleich zu den privilegierten ausländischen Investoren ohnehin benachteiligten – tunesischen Firmen, die der Konkurrenz billiger europäischer Massenprodukte oft nicht standhalten konnten und können. Folgen waren Betriebsschließungen und Entlassungen in etwa einem Drittel der kleinen und mittleren Betriebe.

Demgegenüber genießen europäische Investoren Vorteile, die tunesische Betriebe nicht haben: Steuerfreiheit über einen Zeitraum von in der Regel 20 Jahren und freier Gewinntransfer nach Europa. Ausländische Betriebe tragen somit nicht zur Akkumulation im Lande bei. Einer der wichtigsten Sektoren des Landes, die Tourismusindustrie, ist wesentlich abhängig von der Konjunkturentwicklung in Europa und von den politischen Verhältnissen im Lande selbst, was sich gerade jetzt in der Folge des Volksaufstands zeigt.

»Stabilität« war über viele Jahrzehnte die Hauptsorge des Westens – nicht nur in Tunesien, sondern in der ganzen Region. Stabilität bedeutete vor allem: »Schutz« vor Flüchtlingen und vor »islamistischem Terrorismus«. Unter Verweis auf letzteren verfolgte das Regime mit brutalen Foltermethoden bis zum Mord Regimegegner jeder Art, gerade auch demokratische. »Stabilität« war dem Westen – und vor allem der alten Kolonialmacht Frankreich – so wichtig, daß die damalige französische Außenministerin, Michèle Alliot-Marie, in einer Rede vor der französischen Nationalversammlung dem tunesischen Tyrannen noch drei Tage vor seiner Flucht den Einsatz französischer Spezialkräfte zur Aufstandsbekämpfung anbot. Einen Tag nach seiner Flucht wurde sein wichtigstes Herrschaftsinstrument, die Quasi-Einheitspartei RCD, aus der Sozialistischen Internationale ausgeschlossen. Die Mitgliedschaft in dieser Organisation hatte wesentlich dazu beigetragen, dem Regime einen Anstrich von Demokratie und Fortschrittlichkeit zu verleihen.

Die oben genannte Studie für IWF und Weltbank kommt zu dem Ergebnis, daß in den Jahren 1999 bis 2008 mehr als zehn Milliarden Euro aus dem Umkreis der Präsidentenfamilie auf ausländische Konten transferiert wurden. Die Summe entspricht ziemlich genau den gesamten Auslandsschulden des Landes. So tanzten das System und mit ihm Politik und Wirtschaft des Westens auf einem Vulkan, dessen Ausbrechen sich schon länger andeutete. Bereits im Januar 2008 war es in den Phosphatminen von Redeyef im südlichen Gouvernorat Gafsa zu massiven Protesten der Arbeiter gekommen, die acht Monate dauerten. Ein vom IWF erarbeiteter Strukturanpassungsplan hatte zur Reduzierung der Belegschaften von 11.000 auf 5.000 in dieser Armutsregion des Landes geführt. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen, die »Rädelsführer« erwarteten drakonische Strafen.

Erkämpfte Demokratie

In Tunesien hatte sich Wut aufgestaut, die an der Oberfläche nicht sichtbar war. Der soziale Protest, der nach der Selbstverbrennung eines jungen Mannes von der westtunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid seinen Ausgang nahm, endete in einer eher bürgerlich zu nennenden Revolution, an der schließlich die gesamte Gesellschaft teilnahm. Der Haß auf die plündernde Despotie führte schließlich sogar zur Weigerung der Armee, auf die Bevölkerung zu schießen. Ben Ali hatte die Armee fern von seinem Palast gehalten und sie politisch marginalisiert, da er eine Wiederholung eines Coups wie desjenigen, den er selbst mit ihrer Hilfe durchgeführt hatte, vermeiden wollte. Ob es nur die aufrechte Haltung der Militärführung war, die zum Sturz des Systems beitrug, bleibt ungewiß: Es gibt Hinweise, daß die US-Botschaft in Tunis, die aufgrund der Ausbildung der hohen Offiziere in US-Kriegsakademien beste Beziehungen zum Offizierskorps unterhält, den Diktator aus wohlerwogenen langfristigen Überlegungen – ähnlich wie später in Ägypten – loswerden wollte.

Entscheidend für das Gelingen der Revolution waren jedoch auch die Elemente der sogenannten Zivilgesellschaft im Lande selbst: An erster Stelle ist hier zu nennen die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens), die 1923 gegründet wurde und immer den Unabhängigkeitskampf unterstützt hatte. Trotz aller Gängelungsversuche durch Bourguiba wie Ben Ali, der die Gewerkschaftsführung korrumpiert hatte, blieben deren regionale Strukturen und Kader militanten und an den Interessen der Arbeiter orientierten Positionen treu. Das zeigte sich nicht nur 2008 in Gafsa, sondern auch bei der Bildung des ersten Übergangskabinetts nach der Flucht Ben Alis. Die UGTT-Führung hatte drei Mitglieder in dieses Kabinett entsandt. Nach einem spontan einberufenen Gewerkschaftskongreß mußten diese Mitglieder binnen 24 Stunden die Regierung wieder verlassen. Von den Gewerkschaftshäusern in der Provinz waren auch viele Demonstrationen ausgegangen.

Auch die – unter Ben Ali illegalen wie legalen – politischen Parteien (letzteren wurden ihre Parlamentssitze schon vor den Wahlen zugeteilt) werden zukünftig eine wichtige Rolle spielen, zu nennen sind vor allem: Ettajdid, eine als legal anerkannte und aus der alten Kommunistischen Partei hervorgegangene Erneuerungspartei, die derzeit mit einem Minister in der Übergangsregierung sitzt; die bisher verbotene Kommunistische Arbeiterpartei Tunesien (PCOT), die in der UGTT eine nicht unbedeutende Basis haben dürfte; die ebenfalls bisher verbotene islamistische Ennahda (Wiedergeburt); schließlich andere bürgerliche und linke Parteien – ihre Zahl ist inzwischen auf über vierzig gewachsen –, die sich teils aus dem Establishment der alten Staatspartei rekrutieren, teils auch die gewachsenen Mittelschichten repräsentieren.

Die tunesische Gesellschaft wird sich die Errungenschaften ihrer bürgerlichen Revolution nicht mehr nehmen lassen. Die Chancen hierfür sind im Vergleich zu Ägypten schon deshalb besser, weil die Armee eine eher marginale Rolle spielt, in Ägypten jedoch seit dem Putsch Gamal Abdel Nassers und der Freien Offiziere im Jahre 1952 das Rückgrat des Systems darstellte und sich zu einer Militärbourgeoisie entwickelte, die etwa zehn bis 20 Prozent der Ökonomie kontrolliert. Um seine Unabhängigkeit und die erkämpfte Demokratie zu sichern, hat Tunesien – im Gegensatz zu Ägypten – nicht nur den Trumpf einer stärker entwickelten Zivilgesellschaft, sondern auch die im Vergleich mit Ägypten geringere weltpolitische Bedeutung: Die geostrategische Position Ägyptens, sein politisches Gewicht in der arabischen Welt und in der Afrikanischen Union, vor allem aber seine (sicherheitspolitische) Rolle im Verhältnis zu Israel machen das Land zu einem unverzichtbaren »Partner« für die USA. Dies mag erklären, warum die USA letztlich die Volksaufstände zu unterstützen scheinen: Nach der Katastrophe des militärischen »Regime Change« im Irak könnte gerade Tunesien Modellfall sein für einen »Regime Change Light«, der Formen eines demokratischen Systems in den arabischen Ländern mit der alten Dominanz des Westens verbindet: Eine liberale und rechtsstaatlich verfaßte politische Fassade könnte dazu dienen, den politischen und sozialen Druck zu kanalisieren, der von einer weiterhin neoliberal ausgerichteten Ökonomie ausgeht. Ob dies so gelingen wird, dürfte aber wesentlich von den politischen Kräften im Land selbst abhängen.

Kein zurück

Alles deutet darauf hin, daß die tunesische Bevölkerung einen Rückfall in die Diktatur ebenso wenig dulden wird wie die Weißwaschung der Vertreter des gestürzten Regimes. Hatte doch die alte Clique von Ben Ali versucht, ihre Hände weiter im Spiel zu halten: Mohamed Ghannouchi (nicht zu verwechseln mit dem Führer der Ennahda, Rachid Al-Ghannouchi), als letzter Ministerpräsident Ben Alis elf Jahre im Amt, leitete weiterhin die »Übergangsregierung«. Wichtige Ministerien, darunter das Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium blieben zunächst weiterhin in den Händen von Vertretern des alten Regimes.

Diese Kontinuität wollte aber das Volk nicht: Am 11. Februar wurde ein »Nationalrat zur Verteidigung der Revolution« gegründet, dem das gesamte Spektrum der politischen Kräfte des Landes einschließlich der Gewerkschaft UGTT angehört. Die Demonstrationen gingen weiter. Ghannouchi mußte zunächst die aus der Präsidenten-Partei RCD stammenden Minister entlassen und am 27. Februar selbst zurücktreten. Anstoß dazu dürfte die Einrichtung von Kommissionen zur Aufarbeitung der Verbrechen des Ben-Ali-Regimes gewesen sein, deren Mitglieder von Ghannouchi ernannt worden waren. Besonders skandalös war die Berufung von Abdelfattah Amor, Professor für öffentliches Recht, zum Vorsitzenden der Kommission zur Aufklärung von Unterschlagungen und Korruption. Amor war 1979 zum Professor berufen worden, mit Ben Ali begann sein steiler Aufstieg: zuerst Dekan, dann Ehrendekan der Juristischen Fakultät der Universität Tunis. Als solcher saß er fast sämtlichen Berufungskommissionen vor. Von Ben Ali erhielt er 1998 den »Menschenrechtspreis des Präsidenten der Republik«. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied des Menschenrechtsausschusses der UN, deren Sonderberichterstatter er von 1993 bis 2004 war. Von 2003 bis 2005 war er Vorsitzender dieses Ausschusses, wo er die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien herunterspielte, beschönigte und vertuschte.

Entscheidende Veränderungen

Mit Ghannouchis Rücktritt wurde eine zentrale Forderung der demokratischen Bewegung erfüllt: Von den 22 Kabinettsmitgliedern gehört nun kein einziges mehr der ehemals herrschenden Clique an. Im Kabinett sitzen nun nur noch parteilose Technokraten, die die Regierungsgeschäfte in der Übergangsperiode bis zu Neuwahlen führen. Die ehemalige Präsidentenpartei RCD wurde am 9. März nicht von der Regierung, sondern von einem ordentlichen Gericht aufgelöst.

Auch auf einem weiteren zentralen Gebiet wurden entscheidende Veränderungen erreicht: Der neue Innenminister hat die politische Polizei aufgelöst. Er erklärte, dies umfasse auch deren »Strukturen, Aufgaben und Praktiken.« Dies sind entscheidende Schritte zur Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Allerdings gibt es eine Vielzahl von Problemen: Das Übergangskabinett muß Ruhe und Sicherheit aufrechterhalten, ohne die wachsame Demokratiebewegung herauszufordern; die durch die Unruhen schwer beschädigte außenorientierte Wirtschaft muß schnellstmöglich wieder in Gang kommen (Tourismus, Zulieferproduktion vor allem für europäische Firmen); die weit über hunderttausend Flüchtlinge aus Libyen stellen eine riesige Belastung dar. Im Vordergrund steht derzeit jedoch die Debatte über die Schaffung neuer Institutionen: Am 24. Juli 2011 soll eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden. An der Ausarbeitung eines entsprechenden Wahlgesetzes sind Parteien, Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Gewerkschaft, Anwaltsvereinigung und Menschenrechtsgruppen beteiligt. Erst danach sollen Parlamentswahlen abgehalten werden. Damit ist auch die Entscheidung offen, ob das neue Tunesien zukünftig eine Präsidialdemokratie oder vielleicht eine parlamentarische Demokratie sein wird. Nicht nur die Revolution vom Dezember und Januar, auch diese Entscheidung könnte Signalwirkung für die übrige arabische Welt haben.

* Aus: junge Welt, 14. April 2011


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