Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Tunesiens Schulden streichen"

Volksfront "Jebha Schaabia" warnt vor Gewalt der Ennahda-Milizen und salafistischer Gruppen. Nein zu IWF-Krediten und Rückzahlung von Geld aus Diktaturzeit. Ein Gespräch mit Jilani Hammami *


Jilani Hammami ist Sprecher der Tunesischen Arbeiterpartei (ehemals Kommunistische Arbeiterpartei), die ihrerseits die stärkste Organisation innerhalb der tunesischen Jebha Schaabia (Volksfront) ist. Die Arbeiterpartei hält drei Sitze von 217 im Parlament.

Tunesiens linken Kräften ist es vor einigen Monaten gelungen, sich zu einer »Volksfront« zusammenzuraufen. Wie ist die Jebha Schaabia entstanden?

Wir hatten gleich nach der Revolu­tion 2011 versucht, eine gemeinsame Front zu schaffen, aber damals waren die Meinungsverschiedenheiten noch zu groß. Nach den Wahlen im Oktober 2011, zu denen unsere Parteien noch einzeln angetreten sind, hat dann ein Diskussionsprozeß begonnen. Im Herbst 2012 konnten wir dann die Front gründen. Ihr gehören elf Parteien an. Die Volksfront ist eine Mitgliederorganisation, das heißt, es sind auch viele Einzelpersonen dabei: Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen und viele andere. Die beteiligten Parteien sind zum Teil marxistisch-leninistisch, zum Teil eher sozialdemokratisch. Auch einige panarabisch nationalistische Organisationen sind darunter. Außerdem hat sich das tunesische ATTAC-Netzwerk angeschlossen.

Meinungsumfragen sehen Ihr Bündnis derzeit bei elf Prozent. Welche Chancen rechnen Sie sich für die nächsten Wahlen aus?

Das ist schwer zu sagen. Noch nicht einmal der Wahltermin steht fest. Auch ist die Diskussion über die Verfassung noch nicht abgeschlossen, und wir haben weder ein gültiges Wahlgesetz noch eine Wahlkommission. Das wird noch einige Zeit brauchen. Vermutlich wird es irgendwann im nächsten Frühjahr Wahlen geben.

Im Augenblick stehen sich drei große Blöcke gegenüber. Zum einen ist das die regierende Troika, das Dreierbündnis, in dem die islamistische Ennahda die stärkste Komponente darstellt. Dann gibt es Nidaa Tounes, den Appell für Tunesien, dem fünf liberale Parteien angehören. Eine von ihnen sammelt Kräfte des alten Regimes, die sich nach der Auflösung der einstigen Regierungspartei unter neuem Namen betätigen. Und als drittes großes Bündnis ist nun Jebha Schaabia auf der Bühne erschienen. Auf diese drei Blöcke wird das Gros der Wählerstimmen entfallen.

Bei den ersten Wahlen nach dem Sturz der Diktatur 2011 hatte Ennahda 37 Prozent der Stimmen bekommen. Seitdem regieren die Islamisten mit zwei kleineren Koalitionspartnern. Wie werden sie von der Bevölkerung aufgenommen?

Ennahda verliert an Glaubwürdigkeit. Die Regierung hat keine Lösung für die Probleme der Menschen. Die Arbeitslosigkeit liegt inzwischen bei 18 Prozent, die Inflation bei 6,5 Prozent. 25 Prozent der Bevölkerung sind nach der offiziellen UN-Definition arm, das heißt diese Menschen leben von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Die soziale Lage ist also sehr, sehr schlecht, und die Menschen verlieren daher mehr und mehr das Vertrauen in Ennahda und die Regierung.

Tunesien hat eine starke und kämpferische Gewerkschaftsbewegung. Wie sehen die Beziehungen der Volksfront zu ihr aus?

Sehr gut. Viele der Parteien, die die Front gemeinsam aufbauen, sind auch im Gewerkschaftsdachverband UGTT, der Union Général de Travaille Tunisienne, einflußreich. In vielen wichtigen Fragen haben wir die gleichen Auffassungen. Zum Beispiel was die Gewalt der Salafisten und der Ennahda-Miliz gegen Parteien, gegen Journalisten, gegen Künstler und Literaten sowie gegen Studenten betrifft.

Am 4. Dezember 2012 haben Salafisten und die Ennahda-Miliz eine Gedenkfeier für Fahed Hachit, einen der UGTT-Gründer, in der Gewerkschaftszentrale in Tunis angegriffen. Danach gab es eine große Mobilisierung der Gewerkschaften, der Jebha Schaabia und aller demokratischen Kräfte Tunesiens. Auf sehr großen Demonstrationen wurde ein Ende der Gewalt gefordert.

Am 6. Februar wurde Chokri Belaïd ermordet, eine der Führungspersönlichkeiten der Jebha Schaabia. Alle in Tunesien wissen jetzt, welche Gefahr von diesen Gruppen ausgeht. Doch die Regierung tut so, als ob sie nichts sehe. Sie läßt einfach zu, daß Waffen ins Land geschafft werden.

Stichwort Wirtschaftskrise: Die Jebha Schaabia ist gegen eine Kreditaufnahme beim Internationalen Währungsfonds.

Ja. Derzeit verhandelt die Regierung über einen neuen Kredit in Höhe von 1,8 Milliarden US-Dollar. Der IWF stellt natürlich Bedingungen. Zum Beispiel fordert er, daß die Benzinpreise erhöht und alle Subventionen gestrichen werden. Außerdem sollen keine jungen Leute mehr in den öffentlichen Dienst eingestellt werden. Schließlich wird eine umfangreiche Privatisierung von staatlichen Unternehmen verlangt. Wir denken, daß diese Bedingungen die Krise weiter verschärfen werden.

Aber was soll mit den Schulden Tunesiens geschehen?

Streichen. Die Rückzahlungen müssen gestoppt werden. Im Augenblick haben wir einen Schuldenstand von 48 Prozent des Nationaleinkommens. Jedes Jahr gehen etwa 20 Prozent des Staatshaushaltes in den Schuldendienst. Diese Schulden wurden von der Diktatur gemacht, und wir wissen nicht, was mit dem Geld geschehen ist. Ben Ali hat vieles davon in die eigene Tasche gesteckt und nichts für die Menschen getan. Es gibt verschiedene Angaben über sein Vermögen. Einige gehen von neun, andere sogar von 14 Milliarden US-Dollar aus. Es gibt keine genauen Zahlen, denn sein Geld ist gut verteilt – in der Schweiz, in Katar, in Frankreich und in anderen Ländern. Tunesiens Auslandsschulden belaufen sich derzeit auf etwa 25 Milliarden US-Dollar.

Wie weit ist die Privatisierung staatlicher Unternehmen vorangeschritten?

Die Bahn ist noch staatlich. Die Telekommunikation ist weitgehend in der Hand ausländischer Gesellschaften. Télécom Tunisie ist größtenteils privatisiert, größter Anteilseigner ist ein Telekom-Konzern aus den Vereinten Arabischen Emiraten. Tunisiana gehört Katar. Orange Tunisie soll derzeit verkauft werden – voraussichtlich erhält Katar den Zuschlag.

Die Scheichs aus Doha gewinnen an Einfluß in Ihrem Land …

Ja. Sie haben sehr viel Geld. Der Schwiegersohn von Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi arbeitete zum Beispiel für den katarischen Sender Al-Dschasira. Nach der Revolution wurde er Tunesiens Außenminister und hat große Anstrengungen unternommen, die Verbindung zwischen den beiden Ländern zu verstärken.

In einigen europäischen Ländern gibt es ähnliche Linksprojekte wie die Jebha Schaabia, zum Beispiel Syriza in Griechenland oder Bloco do Esquerda in Portugal. Gibt es eine Zusammenarbeit?

Wir arbeiten mit der Front de Gauche in Frankreich und Syriza zusammen. Es gibt einen Meinungsaustausch zwischen Tunesien, Frankreich, Griechenland, Marokko und Ägypten über den Aufbau eines linken Bündnisses rund um das Mittelmeer. Alle linken und fortschrittlichen Kräfte sollen zusammengebracht werden.

Interview: Wolfgang Pomrehn, Tunis

* Aus: junge Welt, Freitag, 3. Mai 2013


Dokumentiert: Sofortprogramm der Volksfront

Die tunesische Jebha Schaabia (Volksfront) stellte nach dem Mord an ihrem Gründungsmitglied Chokri Belaïd am 6. Februar 2013 einen Forderungskatalog auf, den jW auszugsweise dokumentiert:

Dieser Mord bestätigt die Schwere der Krise, die unser Land auf allen Ebenen erfaßt hat. (…) Die Krise resultiert aus dem Versagen der von der »Ennahda- Bewegung« geführten Regierungskoalition und ihrer Unfähigkeit, die grundlegenden Probleme der Tunesier zu lösen: Wachsende Arbeitslosigkeit, Verschlimmerung der Armut (…), zunehmende Marginalisierung und Unterdrückung. (…) Wir (…) fordern eine Regierung, die das Land rettet, den Menschen und der Heimat dient (…), zusammengesetzt aus Menschen, die in der Lage sind, die verbleibende Übergangsperiode zu organisieren und die nicht bei den nächsten Wahlen kandidieren, eine Regierung, die im Rahmen des folgenden Sofortprogramms agiert: (…)
  • Den Verfassungsentwurf fertigstellen, der das Streben unseres Volkes nach Freiheit, Würde, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit unter allen Tunesiern bewahrt.
  • Die Probleme der Märtyrer und Versehrten der Revolution lösen.
  • Ein Wahlgesetz erarbeiten (…) und ein präzises Datum für die Wahlen festlegen.
  • Mechanismen zur Bekämpfung von Korruption und »politischem Geld« schaffen. (…)
  • Die Zerstörung einheimischer Unternehmen und des Reichtums des Landes verhindern.
  • Die Schuldentilgung aussetzen und ein Audit-Komitee schaffen, das die Herkunft der Schulden überprüft.
  • Steuerflucht bekämpfen und eine Sondersteuer auf alle großen Vermögen einführen.
  • Kleine und mittlere Bauern unterstützen und von den sie ruinierenden Schulden befreien.
  • Die Preise einfrieren, um die Kaufkraft zu schützen und den Konsum anzuregen.
  • Das Dekret über das Verbot von Zeitarbeit und die Regeln für die Arbeit am Bau umsetzen.
  • Die Arbeitslosigkeit reduzieren, die Einführung von Arbeitslosengeld prüfen und den Mindestlohn neu ordnen. (…)
  • Alle Angriffe auf politische Aktivisten, Intellektuelle, Künstler, Journalisten, Grabmäler und Heiligtümer untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
  • Die sogenannten Ligen zum Schutz der Revolution (Ennahda-Milizen, jW) und ähnliche Gruppen auflösen.
  • Den Mißbrauch der Moscheen für Parteipropaganda und die Aufstachelung zur Gewalt verbieten. (…)
  • Die Vergabe aller Verwaltungsposten widerrufen, die nach Parteizugehörigkeit erfolgte.
Übersetzung: Wolfgang Pomrehn




Zurück zur Tunesien-Seite

Zurück zur Homepage