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"Wir gehen von einem politischen Verbrechen aus"

Mord an linkem tunesischen Politiker ruft Komitee von Anwälten auf den Plan. Verdächtige sollen Mitglieder religiöser Gruppe sein. Gespräch mit Nizar Soussi *


Nizar Soussi war der Anwalt des am 6. Februar ermordeten linken tunesischen Politikers Chokri Belaïd. Dieser galt als eine der Führungspersönlichkeiten des im Herbst gegründeten Linksbündnisses Front Populaire.

Über eine Million Menschen, mehr als ein Zehntel der Bevölkerung des Landes, haben am Trauerzug für Chokri Belaïd teilgenommen. Was ist über den Mord am 6. Februar bekannt?

Chokri wurde am Morgen, als er sein Haus verließ, erschossen. Er hatte sich gerade in seinen Wagen gesetzt, als ihn die Kugeln trafen. Wir gehen davon aus, daß es ein politisches Verbrechen war. Daher haben wir ein Komitee von Anwälten gegründet, dessen Vorsitzender ich bin. Das Komitee soll helfen, die Hintergründe aufzudecken.

Inzwischen läuft ein Untersuchungsverfahren vor Gericht. Wir bemühen uns unter anderem darum, daß auch Regierungsvertreter dort aussagen müssen – und daß die Akte nicht einfach geschlossen wird. Die Regierung möchte es gerne so darstellen, als sei es eine individuelle Tat gewesen, aber wir gehen davon aus, daß es ein politisches Verbrechen war.

Gibt es Verdächtige?

Es gibt drei Verdächtige, aber der Haupttäter wurde noch nicht festgenommen. Nach ihm wird gefahndet, aber es ist unklar, ob er noch in Tunesien ist oder ob er sich ins Ausland, vielleicht nach Algerien oder nach Libyen, abgesetzt hat.

Was ist über den politischen Hintergrund bekannt?

Die Täter sind offensichtlich Mitglieder einer religiösen Gruppe gewesen, aber welcher, wissen wir nicht. Der Innenminister behauptet, die Täter seien Mitglieder einer antichristlichen Organisation, aber ob das stimmt, wissen wir nicht.

Sind Sie mit der Arbeit der Justiz bisher zufrieden?

Nein, auf gar keinen Fall. Wir sind überzeugt, daß die Regierung dieses Verbrechen herunterspielen will. Der seinerzeitige Innenminister und jetzige Regierungschef Ali Larayedh von der islamistischen Partei Ennahda ist dreimal vom Untersuchungsrichter vorgeladen worden, hat sich aber jedes Mal geweigert zu erscheinen und auszusagen.

Larayedh sollte zu Vorwürfen befragt werden, der Hauptverdächtige sei bereits Anfang März von Algerien an Tunesien ausgeliefert, aber der Ermittlungsrichter nicht informiert worden.

Ja. Wir hatten verlangt, ihn zu verhören, aber er weigert sich auszusagen. Er mißachtet die Autorität des Richters, und das Parlament hat bisher keinen Untersuchungsauschuß eingesetzt.

Was bedeutet dieser Mord für die tunesische Gesellschaft?

Chokri Belaid war einer der Führer der Front Populaire und ein charismatischer Sprecher einer der linken Parteien, der Vereinten Demokratischen und Patriotischen Partei. Die Mörder wollten ihn ausschalten. Und es ist offensichtlich, daß die Regierung mit ihrer Rhetorik die Gewalt begünstigt hat. Doch die Gesellschaft will diese Gewalt nicht.

Dennoch hat die Regierungspartei Ennahda eine große Anhängerschaft.

Ennahda spricht die Menschen über die Religion an, und das ist leicht. Viele einfache Menschen lassen sich dadurch einfangen.

Wie geht es weiter mit der Untersuchung des Mordes?

Wir warten auf den Bericht des Untersuchungsrichters. Danach müssen wir uns unsere Strategie überlegen. Wir sind überzeugt, daß die Regierung kein Interesse daran hat, dieses Verbrechen wirklich aufzuklären. Wenn nötig werden wir den Fall also vor das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen bringen, damit mehr Druck auf die Regierung ausgeübt wird.

Interview: Wolfgang Pomrehn, Tunis

* Aus: junge welt, Samstag, 13. April 2013


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