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"Die Revolution begann auf der Straße"

Über die Rolle von Internetdiensten wie Facebook während des Umsturzes in Tunesien und die aktuelle Situation. Ein Gespräch mit Lina Ben Mhenni *


Lina Ben Mhenni betreibt den Internetblog »A Tunisian Girl«, der während des Umsturzes in Tunesien viel Beachtung fand. Im Ullstein Verlag erschien vergangene Woche ihr Buch »Vernetzt euch!«

Tunesien taucht zur Zeit selten in den Schlagzeilen europäischer Medien auf. Wie ist die aktuelle Lage?

Die Situation ist zur Zeit sehr undurchsichtig. Es gehen wieder mehr Leute auf die Straße, weil sie mit der Übergangsregierung nicht zufrieden sind. Kürzlich hat die Aufnahme neuer Kredite bei internationalen Geldgebern für Empörung gesorgt. Die Übergangsregierung hätte dazu nicht das Recht gehabt. Schließlich ist es das tunesische Volk, das die Kredite später jahrelang zurückzahlen muß. Es gibt keine Transparenz, wir wissen nicht, was die Regierung tut.

Anfang Juni wurden die für Juli angesetzten Wahlen auf Oktober verlegt.

Ich denke nicht, daß die Wahlen aus »technischen Gründen« verschoben wurden, wie es offiziell heißt. Die ehemaligen Mitglieder von Ben Alis Partei RCD versuchen, sich in neuen Parteien zu reorganisieren und benötigen dafür mehr Zeit. Die Islamisten wiederum haben dank des neuen Wahltermins den ganzen Ramadan, um ihre Propaganda in den Moscheen zu verbreiten.

Das Internet hat während des Umsturzes in Tunesien zur Mobilisierung beigetragen. Kann man aber mit Facebook auch ein neues System aufbauen?

Es kann dabei helfen. Auch in Tunesien war es ja so, daß Facebook lediglich dabei half, Ben Ali zu stürzen. Es war sicher nicht der wichtigste Faktor, sondern einer, der in Kombination mit anderen wirkte. Die Revolution begann natürlich auf der Straße, nicht auf Facebook. In Ägypten gab es vielleicht die ersten Aufrufe auf Facebook und Twitter, aber in Tunesien begann die Bewegung auf der Straße. Der entscheidende Augenblick war, als die Leute sich nach der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi zu spontanen Kundgebungen zusammenfanden und trotz Polizeigewalt weiter auf die Straße gingen.

Sowohl in Tunesien als auch in anderen Ländern sind immer wieder Menschen verhaftet worden, die via Facebook zu Protesten aufgerufen hatten.

In Tunesien haben ab einem bestimmten Zeitpunkt alle verstanden, wie wichtig das Internet sein kann. Deshalb sind jetzt auch die konterrevolutionären Kräfte online aktiv und verbreiten Gerüchte, um Unruhe zu stiften. In Tunesien gibt es immer noch eine eigene Internetpolizei. Wie die meisten Dinge hat auch das Internet gute und schlechte Seiten.

Haben die etablierten Medien in Tunesien ebenfalls auf diese technischen Entwicklungen reagiert?

Nein. Im Grunde versäumen die traditionellen Medien eine große Chance. Sie werden immer noch von der Übergangsregierung oder den konterrevolutionären Kräften manipuliert. Dieselben Leute, die mit Ben Ali zusammengearbeitet und seine Propaganda verbreitet haben, arbeiten nach wie vor bei den Medien, die nun die Übergangsregierung unterstützen.

Ist die wichtige Rolle von Bloggern während des Umsturzes in Tunesien einzigartig?

Ich denke, es handelt sich um ein weltweites Phänomen. Als die Ereignisse in Tunesien begannen, verfolgten dies die Menschen in Ägypten und verbreiteten die Neuigkeiten. Es gab viel Unterstützung für uns aus Ägypten und anderen Ländern. Das gleiche gilt jetzt für Syrien oder Libyen.

Aber die Entwicklung in Libyen nimmt einen völlig anderen Verlauf als in Ägypten oder Tunesien.

Ja, das liegt an der militärischen Einmischung. Die Cyberaktivisten verwenden aber dieselben Methoden. Wir versuchen, in Libyen dieselben Dinge zu tun. Weshalb es dort zur Intervention kam, nicht aber in Syrien oder Tunesien, weiß ich nicht. Vielleicht hat es mit Israel zu tun.

Auch in Palästina wurde alles um den »arabischen Frühling« genau verfolgt. Wie beurteilen Sie die in wenigen Tagen stattfindende Gaza-Flottille, die in europäischen Massenmedien häufig als antisemitisch diffamiert wird?

Die Flottille ist eine sehr wichtige Unterstützung für die Palästinenser. Sie leben wie in einem Gefängnis und brauchen Unterstützung von außen. Deshalb ist die Aktion so wichtig. Ich denke nicht, daß es eine antisemitische Initiative ist. Es geht nicht darum, Israelis anzugreifen, sondern darum, den Palästinensern zu helfen. Es handelt sich ganz einfach um humanitäre Hilfe.

Interview: Simon Loidl

* Aus: junge Welt, 24. Juni 2011


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