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Tunesiens prekärer Übergang

"Sicherheitskräfte" stiften Unsicherheit

Von Claudia Altmann *

Die tunesische Übergangsregierung muss sich Destabilisierungsversuchen von Sicherheitskräften der alten Ära erwehren. Der bisherige Höhepunkt war der Überfall auf das Innenministerium.

Vor allem die Entlassung des »alten« Innenministers hatte bei den Protesten in Tunesien im Mittelpunkt der Forderungen gestanden. Wie berechtigt das Misstrauen der landesweit Protestierenden gegenüber den aus der Ben-Ali-Ära stammenden Ministern tatsächlich ist, haben die Ereignisse um das Gebäude des Innenministeriums am vergangenen Montag offenbart. Nach Einschätzung des neuen Ministers, Farhat Rajhi, war die Situation »extrem gefährlich«. Gegenüber dem tunesischen Privatsender »Hannibal TV« sprach er von einem »Komplott gegen den Staat und die Übergangsregierung«.

Etwa 3000 Männer, mutmaßlich Angehörige der Sicherheitskräfte ausgaben, hatten das Gebäude angegriffen und versucht, es zu stürmen. Zum Zeitpunkt der Attacke hatte sich auch Armeechef Raschid Ammar in dem Gebäude am Boulevard Habib Bourguiba im Herzen von Tunis befunden. Er genießt in der Bevölkerung großes Vertrauen, da er sich dem Befehl Ben Alis entgegengestellt und nicht auf die Demonstranten schießen lassen hatte. Raschid und Rajhi seien »wie durch ein Wunder« der Meute entkommen. Dem Innenminister wurden bei dem Überfall Mobiltelefon und Brille geraubt. Wie dieser weiter im tunesischen Fernsehen sagte, konnten die Angreifer im Lande untertauchen, da sie offenbar Rückendeckung aus dem Polizeiapparat haben. Nur so könne er sich erklären, dass kein einziger der an der Aktion Beteiligten verhaftet wurde.

Als erste Reaktion auf diesen »Putschversuch« wurde der langjährige Chef des Innenressorts Rafiq Haj Kasem verhaftet. Er hatte in den ersten Wochen des Aufstands die Schießbefehle gegeben und stand daher bereits seit mehreren Tagen unter Hausarrest. Er steht jetzt unter dem Verdacht, zu den Hintermännern der Aktion zu gehören. Am selben Tag noch entließ der gegenwärtige Innenminister Rajhi 42 hochrangige Mitarbeiter seines Hauses, darunter den Chef für Nationale Sicherheit. Zugleich kündigte er für die kommenden Tage Neubesetzungen unter den 42 Gouverneuren des Landes an, von denen zehn ohnehin schon nicht mehr auf ihrem Posten seien. Er rief die Polizisten des Landes auf, überall ihre Arbeit wieder aufzunehmen, und stellte eine Erhöhung ihrer Nachtzuschläge in Aussicht. Außerdem gab er seine Zustimmung zu der von ihnen geforderten Gründung einer eigenen Gewerkschaft.

Ganz offensichtlich hatte das neue Kabinett bei seiner ersten Sitzung Ende vergangener Woche in eine Wespennest gestochen. Zu den Beschlüssen gehörten unter anderem der Beitritt Tunesiens zu mehreren internationalen Konventionen gegen Folter, zum Schutz aller Menschen vor Verschleppung sowie zum Römischen Statut des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Bei Inkrafttreten wird der Weg frei, um Staatsbeamte, die sich während der 23 Jahre dauernden Herrschaft Ben Alis Verbrechen schuldig gemacht haben, zur Verantwortung zu ziehen.

Bereits in den Stunden nach dessen Flucht am 14. Januar hatten offenbar Ben-Ali-treue Milizen versucht, Chaos im Lande zu verbreiten. Die Menschen hatten daraufhin landesweit Bürgerwehren gegründet. Allerdings konnten auch damals nicht alle Bewaffneten dingfest gemacht werden.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2011


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