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Protest und Schüsse

Machtverhältnisse in Tunesien bleiben nach der Flucht von Präsident Ben Ali unübersichtlich. Armee in Kämpfen mit Sicherheitskräften

Von Karin Leukefeld *

Die Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit in Tunesien war am Montag von weiteren Straßenkämpfen und Gewalt begleitet. Kämpfe lieferte sich vor allem die Armee mit Angehörigen der ehemaligen Präsidentschaftsgarde und Sicherheitskräften des Innenministeriums. Scharfschützen und Schlägertrupps dieser Gruppen werden von der Bevölkerung auch für Angriffe auf Bürger verantwortlich gemacht, die sich in den letzten Tagen in verschiedenen Vierteln der tunesischen Hauptstadt gebildet haben, um ihre Familien, Wohnungen und Geschäfte zu schützen.

Während die Verhandlungen über die Regierung der nationalen Einheit am Montag fortgesetzt wurden, kam es vor der Parteizentrale der bisher herrschenden RCD (Konstitutionelle Demokratische Versammlung) zu wütenden Protesten. Sie richteten sich gegen eine in Umlauf gebrachte Namensliste des neuen Übergangskabinetts. Ihr sollen laut Berichten der gerade ernannte Innenminister sowie der bisherige Außenminister angehören, die beide RCD-Mitglieder sind. Das sei keine Regierung der nationalen Einheit, so die Kritik, weite Teile der tunesischen Gesellschaft blieben unberücksichtigt.

Lediglich drei Minister sollen den auch unter Ben Ali geduldeten Oppositionsparteien und Gewerkschaften angehören, berichtete ein Korrespondent des arabischen Nachrichtensenders Al Dschasira. Die Demokratische Fortschrittspartei (PDP) sowie das Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit (FDTL) sollen die Ministerien für regionale Entwicklung und Gesundheit übernehmen, hieß es im arabischen Programm der BBC, die (ehemals kommunistische) Erneuerungspartei das Bildungsministerium. Am Samstag war bereits der bisherige Parlamentssprecher Fouad Mebazaa als Übergangspräsident vereidigt worden.

Der amtierende Ministerpräsident Mohammed Al-Ghannouchi erklärte derweil »null Toleranz« für alle, die die Sicherheit des Landes weiter gefährdeten. Mit der Ernennung einer Übergangsregierung werde »eine neue Seite in der Geschichte Tunesiens aufgeschlagen«, verkündete er. Unklar ist derweil noch, ob Neuwahlen nun in zwei oder erst in sechs Monaten durchgeführt werden sollen. Al-Ghannouchi forderte alle bisher verbotenen Parteien auf, wieder aktiv zu werden, ihre Führer sollten aus dem Exil zurückkehren, Tunesien sei auch »ihr Land.«

Auf Kritik, die verbotene Opposition sei nicht in die Gespräche für die Übergangsregierung einbezogen worden, ging Ghannouchi nicht ein. Exilpolitiker und jene, die bisher im Gefängnis saßen, werden Zeit brauchen, um ihre Parteien und Kandidaten für die Wahlen neu zu organisieren. Das betrifft vor allem die Islamische Erneuerungspartei (Al-Nahda), die Tunesische Arbeiterkommunistische Partei und die islamische Hisb Al-Tahrir (Befreiungspartei).

Während westliche Medien wiederholt die Bedeutung von Internetmedien wie Facebook, Blogs und Twitter für den Erfolg des Aufstandes betonten, spielt das in der arabischen Berichterstattung nur am Rande eine Rolle. In arabischen Ländern verfügen weit weniger Haushalte über einen Internetzugang als in europäischen Staaten oder in den USA. Arabischen Medien ist auch nicht zu entnehmen, daß die Veröffentlichung von Wikileaks über das ausschweifende Leben des Ben-Ali-Clans die Wut der Tunesier besonders angefacht hat. Das vermutete u.a. die New York Times. Die rücksichtslose Selbstbedienung des Präsidentengefolges war wohl eher für westliche Touristen eine Neuheit, zumal sie sich meist wenig für den Alltag ihrer tunesischen Gastgeber interessierten. Den Tunesiern selbst war das auf Ausplünderung des Landes gestützte Luxusleben der Familie des Staatspräsidenten seit Jahren bekannt. Es spielte sich täglich vor ihren Augen ab.

* Aus: junge Welt, 18. Januar 2011


Tunesien zeigt sich reformfreudig

Übergangsregierung verfügt Ende der Pressezensur und Freilassung politischer Gefangener **

Nach der Flucht von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali hat der amtierende Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi in Tunesien eine Regierung der nationalen Einheit unter seiner Führung gebildet.

Die tunesische Übergangsregierung unter der Beteiligung von drei Oppositionsführern soll Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereiten, wie Ghannouchi am Montag mitteilte. Insgesamt gehören dem Interimskabinett 19 Minister an.

Ein Informationsministerium gibt es nicht mehr. Es war als Zensurinstanz für die Medien und Propagandamaschine in der Bevölkerung besonders verhasst. Neben Ghannouchi, der schon unter Ben Ali im Amt war, verbleiben fünf weitere Minister aus dem alten Kabinett auf ihren Posten, darunter die bisherigen Ressortchefs für Äußeres und Inneres.

Kurz vor seiner Flucht nach Saudi-Arabien hatte Ben Ali Ghannouchi noch mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt. Von den am Wochenende geführten Verhandlungen ausgeschlossen waren die unter Ben Ali verbotenen Islamisten und Kommunisten. Nach der tunesischen Verfassung müssten Neuwahlen binnen zwei Monaten stattfinden. Oppositionsvertreter fordern aber eine Frist von sechs Monaten, um das Votum demokratisch zu gestalten.

Premier Ghannouchi kündigte eine Reihe von politischen Reformen an, so eine »vollständige« Pressefreiheit. Außerdem würden alle politischen Gefangenen freigelassen. »Wir haben entschieden, dass alle Menschen, die für ihre Ideen, ihre Überzeugungen oder für Äußerungen abweichender Meinungen inhaftiert waren, befreit werden«, sagte Ghannouchi auf einer Pressekonferenz.

Unterdessen forderten Demonstranten in mehreren Städten die Auflösung von Ben Alis Partei Konstitutionelle Demokratische Versammlung (RCD). »Die Revolution geht weiter«, skandierten Demonstranten in Tunis bei zwei Kundgebungen mit mehreren hundert Teilnehmern. Sie verlangten auch den Abgang des schon unter Ben Ali amtierenden Ministerpräsidenten Ghannouchi. Die Polizei löste die Kundgebungen mit Wasserwerfern und Tränengas auf. In den Straßen waren Schüsse zu hören, ein Armeehubschrauber überflog die Stadt. Auch in Sidi Bouzid und Regueb fanden Kundgebungen gegen die RCD statt.

Die EU sei bereit, »sofortige Unterstützung zur Vorbereitung und Organisation des Wahlprozesses zu geben«, sagte eine Sprecherin von EU-Außenministerin Catherine Ashton. Brüssel stellte Tunesien einen Ausbau der Beziehungen in Aussicht. Zudem berieten die Mitgliedstaaten über Sanktionen gegen Ben Ali und seine Vertrauten.

Der prominente tunesische Oppositionspolitiker Moncef Marzouki kündigte seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl an. Marzouki war bis 1994 Vorsitzender der tunesischen Menschenrechtsliga und gründete 2001 die linksgerichtete Oppositionspartei Kongress für die Republik (CPR), die unter Ben Ali verboten war.

Das französische Konsulat in Tunis hat Angaben über den Tod eines deutsch-französischen Fotografen berichtigt. Demnach ist Lucas Mebrouk Dolega noch am Leben. Er befinde sich in einem »kritischen Zustand«, hieß es. Zuvor hatten das Konsulat und der Arbeitgeber des 32-Jährigen, die european pressphoto agency (epa), den Tod des Reporters vermeldet.

Wie das Auswärtige Amt mitteilte, wurden in den vergangenen Tagen mehr als 6000 deutsche Urlauber zurückgebracht.

Die LINKE im Bundestag kritisierte die »Doppelzüngigkeit deutscher Außenpolitik«. Jahrzehntelang habe die Bundesregierung bei Menschenrechtsverletzungen in Tunesien weggeschaut, »weil der Diktator ein verlässlicher Partner in der Terrorbekämpfung und der Flüchtlingsabwehr war«, so der Abgeordnete Jan van Aken.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Januar 2011


Passgerechtes Wegsehen

Von René Heilig ***

Günter Nooke (CDU) – er war zu DDR-Endzeiten Bürgerrechtler – will was lernen. Das hat der Außenamt-Afrika-Beauftragte, der zuvor im AA für Menschenrechte zuständig war, auch nötig. Man dürfe, so sagt Nooke jetzt zum Thema Tunesien, vor undemokratischen Entwicklungen künftig nicht mehr die Augen verschließen und Dinge nicht schönreden, die vielleicht nicht so gut sind. Zugleich hofft er, dass bald wieder Ruhe und Ordnung einkehren jenseits des Mittelmeeres.

Es ist nicht wahr, dass Deutschland die Augen verschloss, um die tunesische Realität zu übersehen. Im Gegenteil, es waren genau die Ruhe und Ordnung der Diktatur, die das Land interessant machten. Tunesien war ein verlässlicher Partner im Antiterrorkampf, hier durfte man jeden wegfangen, wegschließen, »wegmachen«, ohne dass es Aufsehen erregte. Unter nahezu idealen Bedingungen konnten westliche Dienste Außenpositionen einrichten. Fragt sich, zu wem die Bewaffneten, die man in Tunis angeblich mit deutschen Pässen erwischt hat, gehören – zum BND oder doch zum Mossad? Spätestens seit 2006 befürchtete man in der BND-Zentrale, dass Tunesien kippt und dass dann – wie in Algerien, Marokko oder Mauretanien – vorhandene, aber bislang unterdrückte Hardcore-Islamisten an Einfluss gewinnen. Die Option ist nicht angenehm.

*** Aus: Neues Deutschland, 18. Januar 2011 (Kommentar)


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