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Künftige Verfassung muss einen Neuanfang markieren

Mokhtar Yahyaoui hatte es gewagt, das Justizsystem unter Ben Ali zu kritisieren, und wurde flugs suspendiert


Der Richter Mokhtar Yahyaoui schrieb 2001 einen Brief an den damaligen tunesischen Präsidenten Ben Ali, in dem er die Kontrolle des Justizsystems durch die Exekutive kritisierte. Sein Neffe Zuhair Yahyaoui verbreitete den Brief auf seinem Blog »Tunezine«. Gegen Mokhtar Yahyaoui wurde daraufhin Berufsverbot verhängt. Heute ist er Mitglied der Hohen Kommission zur Vorbereitung der Wahlen in Tunesien, die am 23. Oktober stattfinden sollen. Mit dem Juristen sprach für das Neue Deutschland (ND) Martin Lejeune.

Was erwarten Sie als Richter von dem Prozess gegen Zine el-Abidine Ben Ali?

Grundsätzlich erwarte ich ein Urteil. Problematisch ist, dass Ben Ali vor einem Militärgericht steht. Das befriedigt mich nicht, weder als Jurist noch als Oppositioneller. Vor diesem Ausnahmegericht gelten nicht die Regeln eines zivilen Strafgerichts. Daher soll das Gericht in letzter Sekunde noch in ein Spezialgericht umgewandelt werden, um Maßnahmen ergreifen und Strafen verhängen zu können, die der besonderen Anklage gerecht werden. Und um ein gerechtes Gerichtsurteil fällen zu können.

Die Repressionen durch die Geheimdienste des Ben-Ali-Regimes waren erheblich. Sie haben sie selbst erlebt. Wie geht das neue Tunesien mit dem Schmerz der Vergangenheit um?

Geheimdienste kann man nicht von einem Tag auf den anderen zerschlagen, auch wenn die Beseitigung des Überwachungsapparats ein zentrales Anliegen ist.. Diese Geheimdienste funktionieren noch immer, die Leute überwachen sich noch immer gegenseitig, der Apparat funktioniert weiter wie geschmiert. Schließlich ist die Übergangsregierung unter Béji Caïd Essebsi eine Geburt des alten Systems.

Erst wenn wir mit einer neuen Verfassung und einer neuen Regierung einen Schlussstrich unter das alte Regime gezogen haben, können wir anfangen, die Verfolgung von Oppositionellen gerecht aufzuarbeiten. Noch ist es dafür zu früh. Dieser Prozess braucht Zeit.

Nachdem Ben Ali am 14. Januar geflohen war, standen wir am Scheideweg. Die eine Richtung hätte Bürgerkrieg und Rache an Dieben und Unterdrückern bedeutet, doch wäre dabei viel Blut geflossen. Wir Tunesier sind den zweiten Weg gegangen: Wir suchen die Einheit und denken an eine gemeinsame Zukunft. Wir wollen die neuen Strukturen sauber aufbauen, um eine stabile Basis für eine gute Entwicklung unseres Landes zu haben.

Sie selbst sind mit der juristischen Vorbereitung der Wahlen am 23. Oktober beschäftigt, aus der Tunesiens verfassunggebende Versammlung hervorgehen soll. Wie wird diese Wahl funktionieren?

Es wird an diesem historischen Tag erstmals freie Wahlen geben, die nicht vom alten System beeinflusst sind. 218 Tunesier – 199 aus dem Inland und 19 aus dem Exil – werden zu Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlung gewählt. Jeder Tunesier darf kandidieren, als Vertreter einer Partei oder auf seiner eigenen Liste. Mit Ausnahme derjenigen, die eine Führungsposition im alten System hatten.

Was für eine Verfassung braucht das Land Ihrer Meinung nach?

Die Verfassung muss auf jeden Fall einen deutlichen Neuanfang markieren. Entscheidend ist auch, welches Regierungssystem sich etablieren wird, ob ein präsidiales oder ein parlamentarisches. In der künftigen Verfassungspraxis müssen Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen frei arbeiten können und die Staatsgewalten müssen voneinander getrennt sein.

Auf welche Wirtschaftsordnung wird Tunesien zusteuern? Sehen Sie für das Land eine Alternative zur neoliberalen Ordnung?

Tunesien ist in einer prekären Lage. Die Familie Ben Ali hatte die Wirtschaft fest in der Hand. Der Außenhandel wird zu 75 Prozent mit Frankreich abgewickelt. Wir sind am wirtschaftlichen Austausch mit anderen Ländern interessiert. Wir müssen viele Kredite aufnehmen, um Investitionen tätigen und gegen die schlechte Wirtschaftslage ankämpfen zu können – ohne eine Überschuldung zu riskieren. Im 19. Jahrhundert ging Tunesien aufgrund der vielen Kredite schon einmal Pleite und öffnete dadurch den Kolonialmächten Tür und Tor. Davor müssen wir uns diesmal hüten.

Hamma Hammami, Sprecher der tunesischen kommunistischen Arbeiterpartei, fordert von den Gläubigern, Tunesien jene Schulden zu erlassen, die Ben Ali aufgenommen hat, weil diese Kredite nicht der Entwicklung des Landes gedient haben, sondern in die Taschen der Herrscherfamilie wanderten. Was halten Sie von einem Schuldenerlass?

Hammami hat Recht, die Gelder wurden zur Korruption des Regimes eingesetzt, das Volk hat nichts davon gesehen, muss jetzt aber die Beträge abstottern. Jedes Land, das freundschaftlich zu Tunesien steht, sollte uns daher unsere Schulden erlassen. Doch wenn wir nun erklären würden, dass wir nichts mehr zurückzahlen, würde uns in Zukunft niemand mehr etwas leihen. Dann könnten wir sehen, woher wir das Geld für den wirtschaftlichen Wiederaufbau bekommen.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2011


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