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Unter westlichem Diktat

Der Umsturz in Tunesien ist für arabische Regierungen, die USA und die EU ein Schock. Sie arbeiteten gemeinsam daran, die Bevölkerung der Region in Armut zu halten

Von Karin Leukefeld *

Die arabischen Führer können die »Lektion von Tunesien« nicht ignorieren, hieß es in einem Kommentar der unabhängigen syrischen Tageszeitung Al Watan einen Tag, nachdem der tunesische Präsident Zine Al Abidine Ben Ali gestürzt worden war. Die arabischen Führer sollten ihre politischen Entscheidungen immer im Interesse der Bevölkerung treffen, um »Stabilität und Sicherheit« zu gewährleisten, nur so könnten »Chaos und innenpolitische Krisen« vermieden werden. Weil die syrische Führung sich von dieser Einschätzung leiten ließ, habe sie zwar »Freunde im Westen verloren«, dafür aber die Unterstützung der eigenen Bevölkerung gewonnen, hieß es weiter. Letztlich richte sich die tunesische Lektion auch an die westlichen Führer, vor allem an die Vereinigten Staaten und an die Europäische Union. Sie hätten Ben Ali politisch, militärisch und finanziell unterstützt, den Willen der Bevölkerung aber ignoriert. Der Sturz Ben Alis zeige aber, daß der Willen der arabischen Bevölkerung gesiegt habe.

Stagnation

Arabische Regierungen zogen schnell die Konsequenzen und ließen die Leine vor allem dort locker, wo es die Menschen am meisten drückt, beim Hunger. Der jordanische König ordnete eine Steuersenkung auf Treibstoff und Grundnahrungsmittel an, der Emir von Kuwait verteilte Geld und läßt die Bedürftigsten bis Ende März Grundnahrungsmittel gratis einkaufen. Syrien verdoppelte die Subventionen für Heizöl, und der saudische König versprach neue Programme zur Einkommenssteigerung.

Doch damit wird es nicht getan sein. Seit Jahrzehnten stagnieren die Lebensbedingungen der arabischen Bevölkerung auf niedrigstem Niveau, während die Waffenarsenale ihrer Staaten sich füllen und die Herrscherfamilien immer reicher werden. Die Gründe für die wachsende Schere zwischen arm und reich in der arabischen Welt sind vielfältig, nicht in jedem Land ist die Lage gleich. Ungebrochene Selbstbedienungsmentalität der herrschenden Familien gibt es in den meisten Staaten, oft verbunden mit politischer Stagnation und Repression, wie es kürzlich bei den Parlamentswahlen in Ägypten offen zutage trat. Korruption ist allgegenwärtig, ob es um das Anmieten einer Wohnung, die Ausstellung von Papieren, die Vermittlung einer Arbeitsstelle oder um einen Platz im Krankenhaus geht. Privatisierung im Gesundheitswesen macht gute medizinische Versorgung zum Luxus, während öffentliche Krankenhäuser völlig vernachlässigt, Ärzte und Pflegepersonal unterbezahlt werden. Nicht nur in Kairo übernachten Menschen auf dem Gehsteig vor öffentlichen Krankenhäusern, um am nächsten Morgen ein Krankenhausbett zu ergattern.

Marktzerstörung

Wirtschaftlich stehen viele dieser Staaten seit den 1980er Jahren unter dem Diktat von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Deren Programme zwingen die Regierungen zum Abbau von Subventionen, was die armen Bevölkerungsschichten in noch größere Armut treibt, die frühere Mittelschicht eingeschlossen. Privatisierung und Ausrichtung lokaler Märkte auf »Weltmarktniveau« oder »soziale Marktwirtschaft« zerstören lokale und regionale Produktion und Wirtschaftsstrukturen, was vor allem im landwirtschaftlichen Bereich zu verfolgen ist. Als Standorte im Billig­lohnsektor für internationale Firmen haben sich von Syrien bis Marokko fast alle arabischen Staaten angedient. Ausländische Produkte überschwemmen im Gegenzug lokale Märkte, während einheimische Produzenten immer weniger verkaufen können. So gibt es Bananen aus Südamerika, Hühnchen aus Brasilien und Erdnußbutter aus England, doch Obst und Gemüse aus der Region müssen weit unter Preis verkauft werden, um noch einen Abnehmer zu finden. Und werden Säfte oder Milchprodukte mal in der Region hergestellt, wie zum Beispiel in Saudi-Arabien, dann meist für internationale Konzerne wie Nestlé oder Coca-Cola. Rapide Steuererhöhungen auf Treibstoff treiben Transportkosten in die Höhe, so daß es sich für Bauern kaum noch lohnt, ihre Produkte auf die städtischen Märkte zu bringen. Nicht nur in Ägypten ist die daraus resultierende Landflucht in den Armenvierteln um Kairo erkennbar, ähnliche Entwicklungen gibt es in allen Großstädten der Region. Soziale Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, Transportmittel, Strom- und Wasserversorgung sind in ländlichen Gebieten völlig unzureichend, von Arbeitsplätzen ganz zu schweigen. Menschen in der Provinz fühlen sich von ihren Regierungen verlassen.

Die meisten der autoritär regierenden arabischen Regimes werden seit dem Ende der Sowjetunion von den USA und Europa bedrängt, hofiert und gegängelt. Als Partner für Israel erhalten Jordanien und Ägypten umfangreiche Militär- und Wirtschaftshilfe. Um Europa vor Flüchtlingen zu schützen und zum »Kampf gegen den internationalen oder islamistischen Terror«, werden Polizeikräfte und Soldaten auf- und ausgerüstet und in Ausbildungsprogrammen nach westlichem Standard geschult, den sie nicht selten beim Einsatz gegen Demonstrationen zur Schau stellen. Der Sturz ihres langjährigen Partners Ben Ali in Tunesien dürfte für die USA und Europa ein Schock gewesen sein. Die »Lektion von Tunesien« zeigt tatsächlich, daß auch die Araber sich nicht ewig belügen und ausbeuten lassen.

* Aus: junge Welt, 19. Januar 2011


Vergiftete Angebote

USA und EU wollen Tunesien helfen

Von Rainer Rupp **


Nur, wenn auch die Reste des alten Regimes, das insbesondere europäischen und US-amerikanischen Kapitalinteressen gedient hat, davongejagt werden, hat die Revolution in Tunesien Aussicht auf Erfolg. Nur dann besteht die Chance, daß sie nicht von den alten, nun in einen demokratischen Schafspelz gehüllten Kräften der Kleptokratie des gestürzten Präsidenten Ben Ali gekidnappt wird. Einige Plakate der Demonstranten lassen hoffen, daß dies erkannt wird. So wurde mit der Parole »Ben Ali – Mörder, Sarkozy – Komplize« z. B. eine der wichtigsten westlichen Stützen des alten tunesischen Folter- und Unterdrückungsregimes beim Namen genannt.

In der Tat war es die französische Regierung, die als eigentliche Macht hinter der Urlaubslandfassade seiner einstigen Kolonie die Strippen zog. Bis kurz vor Schluß unterstützte Paris den Autokraten Ben Ali und seine Familie. Auf Dutzende vom Regime getötete Demonstranten reagierte Frankreich gar nicht erst. Statt dessen behandelte sein sonst so sehr um die Einhaltung der Menschenrechte bemühtes Außenministerium den Despoten weiterhin als legitimen Führer Tunesiens, während es zugleich die Forderungen der Demonstranten ignorierte. Erst in buchstäblich letzter Sekunde, als klar wurde, daß der Schützling nicht länger zu halten war, ließ auch Präsident Nicolas Sarkozy ihn fallen.

Paris verweigerte Ben Ali bei seiner Flucht am Freitag das Exil in Frankreich und hoffte so, weitere Kritik der Demonstranten an der Grande Nation abzuleiten. Zugleich zeigte sich Sarkozy hilfsbereit und bot der neuen tunesischen Übergangsregierung »entschlossene Unterstützung« zur Umsetzung des »demokratischen Willens« zu freien und fairen Wahlen an. Schließlich besteht die neue Führungsriege zum großen Teil aus Funktionären, die schon unter Ben Ali Minister waren. Ein Umsturz sieht anders aus. Enttäuscht zogen die Gewerkschaften ihre drei Minister bereits am Dienstag wieder zurück.

Auch die Europäische Union will helfen und für die Tunesier die Wahlen organisieren bzw. den Wählerwillen in die richtigen Kanäle leiten. Da weiß zumindest die bürgerliche Oberschicht des Landes und die mit ihr verfilzte alte Garde ihre Interessen in guten Händen. Gefährlich würde es dagegen, wenn die tunesischen Massen selbstbewußt ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen würden. Das erfüllt auch die USA mit Sorge, wie Stellungnahmen dieser anderen Schutzmacht des verjagten Autokraten, der Hochburg der westlichen Demokratien, erkennen lassen. Washington will ebenfalls dringend helfen. Da kommt der Rat des iranischen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani an seine tunesischen Glaubensbrüder genau richtig. Er warnt sie, sich ihre Revolution nicht stehlen zu lassen und vor den Hilfsangeboten »bestimmter Länder auf der Hut zu sein, die bis vor wenigen Tagen noch die alten Strukturen unterstützt haben«.

** Aus: junge Welt, 19. Januar 2011


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