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Vom "tunesischen Wunder"

In Tunesien werden junge Menschen verhaftet, gefoltert und schikaniert, weil sie das Land verlassen wollen oder auf verbotenen Websites surfen. Hinter den Kulissen des Urlaubslandes ist die Menschenrechtslage prekär.

Von Christine Moderbacher und Annika Lems *

Ich habe keine Angst. Aber wenn sie deiner Mutter drohen, deinen Bruder schlagen, deine gesamte Familie unter Druck setzen, bewirkt das mehr, als wenn sie dir selbst schaden.“ Nabila (Name geändert), eine selbstbewusste junge Tunesierin, erzählt über die Konsequenzen ihrer regierungskritischen Tätigkeiten. Ihre Geschichte ist eine von vielen in einem Land, das vom viel gerühmten Vorzeigestaat Nordafrikas zu einem korrupten Polizeistaat mutiert ist.

2007 ist ein wichtiges Jahr für Tunesien: Die Feierlichkeiten zur 50-jährigen Unabhängigkeit des „freien, demokratischen“ Landes gehen Hand in Hand mit denen zur zwanzigjährigen Präsidentschaft Zine el-Abidine Ben Alis. So paradox dieses symbiotische Zusammenspiel zwischen Schein-Demokratie und Diktatur für den Außenstehenden anmuten mag – es spiegelt den traurigen Stand der Menschenrechte in einem Land wider, dessen Regime sein Netz aus Überwachung und Unterdrückung fernab der Weltaufmerksamkeit immer dichter knüpft. 1987 kam Präsident Ben Ali durch einen friedlichen Putsch an die Macht. Seither sorgte er sukzessive dafür, aus Tunesien ein Land zu machen, dessen EinwohnerInnen von Angst und Paranoia geplagt sind. Der Staatschef verstand es nach den Anschlägen des 11. September 2001 sehr gut, den internationalen Kampf gegen den Terrorismus zu seinen Gunsten zu nutzen. Nur wenige Tage danach verkündete er eine Verfassungsänderung, welche die uneingeschränkte Wiederwahl des Präsidenten zulässt. Nun lässt er sich alle fünf Jahre mit ca. 99 Prozent der Stimmen wieder wählen. Unter dem Deckmantel der „Terrorbekämpfung“ werden junge TunesierInnen verhaftet, die entweder illegal migrierten und wieder abgeschoben wurden oder auch einfach nur auf verbotenen Websites zugegriffen haben. Amnesty International spricht von hunderten in den Vorjahren nach unfairen Verfahren verurteilten politischen Gefangenen. Obwohl es zahlreiche Berichte über Folter in den tunesischen Gefängnissen gibt und TunesierInnen, die abgeschoben werden, bis zu zehn Jahre Haft erwartet, gilt das Land bei Rücknahmeabkommen als einer der wichtigsten Kooperationspartner der EU. Viele EuropäerInnen verbinden Tunesien mit Sommer, Sonne und Strand, wissen aber nicht, welche Grausamkeiten sich hinter der Fassade der Urlaubsidylle Tag für Tag abspielen. So erzählt Nabila, dass die Haft die meisten Gefangenen innerlich zerstört und viele ihrer FreundInnen dabei auf 40 Kilo abgemagert sind. Auch Amnesty International bestätigt, dass viele politische Gefangene seit über zehn Jahren inhaftiert sind und ihre gesundheitliche Verfassung schlecht ist.

Ben Alis Spitzel sind überall, und auch sonst sorgen die meterhohen Plakate an jeder Hausecke und die obligatorischen gerahmten Fotos des Präsidenten in jedem Geschäft dafür, dass seine Allgegenwart nicht in Vergessenheit gerät. Nur privat zuhause oder in stillen Winkeln von ruhigen Cafés wird hinter vorgehaltener Hand über diejenigen erzählt, die seit Jahren in den Gefängnissen sitzen: Von Oppositionellen, die wie Nabila aus dem Ausland agierten und während eines Kurzbesuchs als Terrorverdächtige festgenommen wurden, über JournalistInnen, deren Artikel zu kritisch waren, bis hin zu Jugendlichen, die durch Kleidung und Musikstil ihre Zugehörigkeit zu einer Subkultur zeigten und dadurch „die öffentliche Moral störten“. Auch Nabila kann ein Lied davon singen. Während ihrer Studienzeit in den USA begann sie, sich für regimekritische Aufklärungsarbeit mittels verschiedener Websites zu engagieren. Wie den meisten tunesischen Oppositionellen war ihr dies nur vom Ausland aus möglich – im Heimatland ist der Zugang zu diesen Websites gesperrt. Internet sowie in- und ausländische Presse werden zensuriert, auch Fernsehen und Radio sind zur Gänze in staatlicher Hand. Leben die SystemkritikerInnen außer Landes und können somit nicht wegen „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ verhaftet werden, wie es im Polizeijargon heißt, versucht man sie auf anderem Wege zu erreichen: Die Familien, die oft noch in Tunesien leben, werden unter Druck gesetzt und schikaniert. Auch Nabilas Mutter, die nicht über die Tätigkeiten ihrer Tochter informiert war, wurde immer wieder von der Polizei heimgesucht.

Dass gerade der Weltinformationsgipfel 2005 mit Tunesien ein Gastgeberland gefunden hatte, das rigoros keine Presse- oder Meinungsfreiheit zulässt und kritische ausländische Berichterstattung kurzerhand von den Ladentischen fegt, wurde von vielen TeilnehmerInnen als trauriges Paradoxon wahrgenommen. Nabila, die dafür zuständig war, JournalistInnen zu kontaktieren und Fotos auf eine oppositionelle Website zu stellen, wurde bei ihrer Arbeit auf allen Ebenen blockiert: Zuerst funktionierte die tunesische Internetdomain nicht mehr. Als sie dann eine kanadische gekauft hatte, war die Internetverbindung an ihrem Arbeitsplatz weg. Zudem wurden ihre Telefonate abgehört.

Zu diesem Zeitpunkt lebte Nabila bereits wieder in Tunesien. Ihr Vater war gestorben, und sie hatte für das Begräbnis ihr Studium in den USA unterbrochen. Als sie in Tunesien einreiste, wurde ihr am Flughafen der Reisepass abgenommen. Neun Monate wartete sie darauf, ihn zurückzuerhalten. Sie ging jeden Tag zum Ministerium. „Meine Existenz in Amerika war verloren, ich weigerte mich, mir eine neue in Tunesien aufzubauen, alles blieb im Koffer. Es war wie in einem Gefängnis mit Gittern vor meiner Zukunft“, beschreibt sie die Zeit des Wartens. Ihren Pass bekam sie schließlich zurück, das Leben in den USA aber war zerstört: die Wohnung von Freunden aufgelöst, der gut bezahlte Job gekündigt, die aufgebaute Organisation mittlerweile eingeschlafen.

Dass der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac immer wieder vom „tunesischen Wunder“ sprach, muss in den Ohren derer, die in den Gefängnissen unter Folter Jahre ihres Lebens beraubt werden, wie eine ungeheuerliche Ironie klingen. Angesichts des Medienspektakels, das sein Nachfolger Nicolas Sarkozy im Sommer 2007 rund um die neu gewonnene Freundschaft mit Libyen veranstaltete – einem Land, wo es um Menschenrechte keinen Deut besser steht – ist jedoch zu befürchten , dass Europa auch in den kommenden Jahren gekonnt über die tunesische Realität hinwegsehen wird.

* Annika Lems und Christine Moderbacher studieren Sozial- und Kulturanthropologie an der Universität Wien und arbeiten an einem Dokumentarfilm zur Migration junger TunesierInnen nach Italien über das Mittelmeer.

Aus: Südwind-Magazin, 10/2007


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