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Jubel in Tunesien

Neue Verfassung schreibt Gleichheit zwischen Frau und Mann fest, verzichtet auf die Scharia und pocht auf die Gewaltenteilung

Von Gerrit Hoekman *

Tunesische Fahnen, patriotische Parolen und schließlich noch die Nationalhymne – im tunesischen Parlament herrschte Sonntagnacht eine Stimmung wie im Fußballstadion. Soeben war das Ergebnis der Abstimmung über die neue Verfassung bekanntgegeben worden: Nur zwölf der über 200 Abgeordneten hatten gegen den Entwurf gestimmt, weitere vier hatten sich enthalten. Damit besitzt Tunesien nun zumindest auf dem Papier das wohl liberalste Grundgesetz der arabischen Welt, das zahlreiche Staatschefs aus dem Westen umgehend als Vorbild für alle anderen Staaten der Region und als historischen Meilenstein feierten. »Wir haben heute unser Versprechen an das tunesische Volk gehalten, das sich mit seiner Revolution für einen demokratischen Staat entschieden hat«, zeigte sich Parlamentspräsident Mustafa Ben Jaafar hochzufrieden.

Den größten Jubel gab es unter den weiblichen Abgeordneten, manche fielen sich freudetrunken um den Hals. Als eine der wichtigsten Neuerungen schreibt die Verfassung nämlich die Gleichheit zwischen Mann und Frau fest – wahrlich keine Selbstverständlichkeit in der arabischen Welt. Tunesien will außerdem in Zukunft auf das islamische Gesetz, die Scharia, als Grundlage der Rechtsprechung verzichten und die Gewaltenteilung einhalten. Religiöse Minderheiten sollen ihren Glauben fortan frei ausüben dürfen.

Zwei Jahre lang hatten die politischen Lager in Tunesien um den Text der Verfassung gerungen. Besonders die regierende islamistische Ennahda-Partei sträubte sich dagegen, den Islam aus dem Grundgesetz weitgehend zu verbannen. Erst der massive Druck der Straße brachte die Konservativen zum Einlenken. Nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Muhammad Brahmi im vergangenen Sommer kam es im ganzen Land zu großen Demonstrationen, die schließlich dazu führten, daß die Ennahda-Partei den Weg zu Neuwahlen und einer neuen Verfassung freimachte.

Die Protestierenden gaben der Ennahda eine Mitschuld an dem Attentat, für das vermutlich radikale Islamisten verantwortlich sind. Erst die Vermittlung der größten tunesischen Gewerkschaft konnte die Krise beenden und die Ennahda zur Aufgabe ihrer Macht bewegen. Ein bemerkenswerter Schritt, denn die Konservativen hatten bei den ersten freien Wahlen in Tunesien einen überragenden Wahlsieg errungen.

An die Stelle der alten Regierung trat am 10. Januar ein unabhängiges Expertenkabinett. Neuer Ministerpräsident ist jetzt der parteilose frühere Industrieminister Mehdi Jomaa, der bis zu Neuwahlen im Amt bleiben soll, die voraussichtlich im Herbst stattfinden. »Ich hoffe, dies wird die letzte Übergangsregierung in Tunesien sein«, sagte Jomaa auf einer Pressekonferenz am Sonntag.

Allerdings, auch in der arabischen Welt ist Papier geduldig, und eine neue Verfassung allein ändert noch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse. Nach wie vor spielt der Islam im Alltag vieler Tunesier eine erhebliche Rolle. Es ist zu erwarten, daß die Religiösen die Verfassung nicht einfach hinnehmen werden. Bereits im Vorfeld der Parlamentssitzung vom Wochenende hatten mehrere hundert Islamisten in Tunis gegen den in ihren Augen gottlosen Entwurf protestiert. Die Gegner fordern die Streichung des Artikels 6, der die Religionsfreiheit garantiert und den Passus, der Frauen und Männern dieselben Rechte einräumt. Die Geschlechter sind ihrer Meinung nach nicht gleichberechtigt, sondern ergänzen sich.

Tonangebend bei dem Protest, an dem sich auch viele Frauen beteiligten, war einem Bericht der Tunis Times zufolge die radikal-fundamentalistische »Befreiungspartei« (Hizb ut-Tahrir). Die panarabische Bewegung strebt ein Kalifat an, in dem die Scharia die einzige Gesetzesquelle wäre. »Nur der Islam kann die Ausbeutung der muslimischen Frau durch den Westen beenden«, heißt es auf der Homepage der Hizb ut-Tahrir, die in Deutschland verboten ist.

Wie stark der Einfluß der Islamisten in Tunesien noch ist, wird sich bei den nächsten Wahlen zeigen, bei denen Beobachter die gemäßigte Ennahda-Partei erneut als Favorit auf den Sieg handeln. Verfassung hin, Verfassung her, der Weg zu einer gleichberechtigten Zivilgesellschaft ist für Tunesien noch weit, besonders für ihren weiblichen Bevölkerungsteil: Im Kabinett von Mehdi Jomaa befinden sich unter den 21 Ministern und sieben Staatssekretären nur drei Frauen.

* Aus: junge welt, Mittwoch, 29. Januar 2014


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