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Kompromiss beim Streitthema Religion

Tunesiens neue Verfassung – Minimalkonsens in Sachen Demokratie / Praxistest steht noch aus

Von Astrid Schäfers, Tunis *

Tunesiens neue Verfassung wurde hoch gelobt, besonders in Europa. Im Lande selbst ist das Echo nicht ungeteilt. Und die politische Gewalt hält an, wie ein »Anti-Terror-Einsatz« bei Tunis zeigte.

Angeblich ist der mutmaßliche Mörder des tunesischen Oppositionspolitikers Chokri Belaïd am Dienstag bei einem Einsatz von Sicherheitskräften ums Leben gekommen. Die Leiche von Kamel Gadhgadhi sei am Dienstag nach einem Anti-Terror-Einsatz in einem Vorort von Tunis entdeckt worden, teilte das Innenministerium mit. Neben Gadhgadhi seien dabei sechs weitere mutmaßliche Terroristen der radikalislamischen Gruppe Ansar al-Scharia sowie ein Mitglied der Nationalgarde ums Leben gekommen. Die Verdächtigen sollen schwer bewaffnet gewesen sein.

Die politischen Entwicklungen hatten Tunesien im Ausland zuletzt viel Lob eingetragen. Die neue Verfassung war als Vorbild für andere Staaten gewürdigt worden. Mehr als zwei Jahre hatte es gedauert, bis sie am 26. Januar mit 200 Ja- und zwölf Gegenstimmen verabschiedete wurde. Die neue Verfassung löst nun die alte von 1959 ab.

Herausgekommen ist ein Werk, das an einigen Stellen so widersprüchlich ist wie die tunesische Gesellschaft selbst. Dies liegt daran, dass die Verfassung auf zahlreichen Kompromissen zwischen der regierenden islamistischen Partei Ennahda und den säkularen Oppositionsparteien in der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) basiert. Die gegensätzlichen Weltanschauungen der islamistischen und der säkularen Kräfte spiegeln sich in widersprüchlichen Sätzen im Verfassungstext wider, insbesondere beim Streitthema Religion.

Die Präambel und Artikel 1 erwähnen den Islam als Religion des Staates, gehen aber nicht auf seine Bedeutung für den Staat ein. Der umstrittene und zuletzt doch verabschiedete Artikel 6 garantiert im ersten Satz Glaubens- und Gewissensfreiheit. Einen Halbsatz später heißt es jedoch: »Der Staat wirkt auf Mäßigung und Toleranz hin und schützt das Heilige gegen jede Art von Angriff.«

»Es ist schizophren«, sagt die Präsidentin der Nichtregierungsorganisation Al Bawsala, Amira Yahyaoui, der tunesischen Variante von Abgeordnetenwatch, »Gewissens- und Religionsfreiheit garantieren zu wollen, und einen Halbsatz später den Schutz des Heiligen und Kampagnen gegen Menschen unter Strafe zu stellen«. Dies ermögliche dem Staat beispielsweise, Karikaturen von Mohammed zu verbieten, kritisiert die Aktivistin. Im letzten Satz des Artikels werden Kampagnen gegen Personen, die sich von der Religion abwenden (Apostasie) verboten. Dies soll wohl religiösem Extremismus vorbeugen, ist aber auch wieder eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Yahyaoui kritisierte außerdem, dass die Jugendlichen, die den Umbruch in Tunesien vor drei Jahren massiv vorangetrieben haben, eine zu kleine Rolle im Verfassungstext spielen.

Ferhat Horchani, Professor für internationales Recht an der Universität Tunis und Vorsitzender des Vereins für Verfassungsrecht, zeigte sich sehr zufrieden mit dem Text: »Diese Verfassung ist ein minimaler Konsens für die Schaffung einer Demokratie. Sie ist unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Vereine entstanden, die die Abgeordneten beraten haben«, erklärte er gegenüber »nd«.

Maßgeblich seien die darin festgeschriebene Schaffung eines Verfassungsgerichts sowie das Recht des Parlaments, ein Misstrauensvotum gegen die Regierung einzubringen. Der Rechtsprofessor weist aber auch auf zahlreiche Schwachstellen hin. Die Gleichheit von Mann und Frau sei nicht klar genug formuliert – in Artikel 20 ist von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern die Rede.

Die Präambel der neuen Verfassung hat sich den Zielen der Revolution, »der Freiheit und der Würde der Revolution vom 17. Dezember 2010 bis zum 14. Januar 2011« verschrieben. Sie garantiert den Vorrang des Rechts, Freiheits- und Menschenrechte, verbietet soziale Diskriminierung und Diskriminierung aufgrund bestimmter regionaler Herkunft. Für problematisch hält Horchani, dass die Präambel nicht Bezug nimmt auf internationale Vereinbarungen wie etwa Menschenrechtskonventionen, sowie die Beibehaltung der Todesstrafe.

Das politische System, das mit der neuen tunesischen Verfassung geschaffen wird, ist gemischt parlamentarisch-präsidial. Der Präsident, der für fünf Jahre direkt gewählt wird, bestimmt die Richtlinien der Politik. In »gefährlichen Situationen kann er nach Zustimmung des Regierungschefs und des Präsidenten des Parlaments die notwendigen Schritte einleiten«. Dies bedeutet, dass er in Ausnahmefällen auch ohne die mehrheitliche Zustimmung des Parlaments Entscheidungen treffen kann. Während die Bevölkerung die Verabschiedung der Verfassung sehr positiv aufnahm, blieb die Begeisterung bei Regierung und Opposition verhalten. Beide mussten schmerzhafte Zugeständnisse machen.

Jetzt ist bereits ein neuer Streit ausgebrochen um die Behörde, die die Wahlen vorbereitet, und das Unternehmen, das die Stimmen elektronisch erfassen soll. Die Opposition zweifelt an der Unparteilichkeit von dessen Chef. »Dieser sein von der Ennahdaregierung ernannt wurden, und weit entfernt davon, neutral zu sein, was für die Arbeit mit den elektronischen Daten notwendig sei«, erklärte ein Beamter der Behörde, der anonym bleiben wollte, gegenüber der Zeitung »La Presse«. Erst nach den Wahlen, der Schaffung von Zivilgerichten und eines Verfassungsgerichts, wird sich zeigen, inwieweit die Verfassung umgesetzt werden kann.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. Februar 2014


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