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Gegen Arme und Behinderte

Großbritanniens Premier für tiefe Einschnitte bei Sozialleistungen

Von Christian Bunke, Manchester *

Diese Woche hielt der britische Premierminister David Cameron eine Grundsatzrede zur Sozialpolitik. Die nächsten Parlamentswahlen sind zwar erst für 2015 angesetzt, dennoch hielt er es für nötig, seine Ideen für den Fall einer konservativen Alleinregierung der Öffentlichkeit zu präsentieren. Kommentatoren sehen dies als Schaufensterverhalten in Richtung des rechtsextremen Flügels der Konservativen Partei. Diesem geht das Sozialabbauprogramm der Koalition mit den Liberaldemokraten viel zu langsam voran.

Vor allem auf erwerbslose Eltern und unter 25jährige hat es Cameron abgesehen. Ihnen wirft er eine »Anspruchskultur« vor. Es könne nicht sein, daß »Eltern ohne Job sich fortpflanzen, während arbeitende Menschen sich das nicht leisten können«. Deshalb will Cameron erwerbslosen Eltern das Kindergeld streichen, wenn sie mehr als drei Kinder bekommen. Der Bezug von Arbeitslosengeld soll auf zwei Jahre begrenzt werden. Erwerbslose sollen zu gemeinnütziger Arbeit gezwungen werden. Das Wohngeld für Familien soll gekürzt werden, Jugendliche unter 25 Jahren überhaupt keines mehr bekommen. Bislang erhalten 380000 unter 25jährige 90 Pfund (etwa 112 Euro) pro Woche, damit sie nicht bei ihren Eltern leben müssen.

»Wir haben Menschen im arbeitsfähigen Alter dazu ermuntert, nicht zu arbeiten und Kinder zu bekommen«, sagte Cameron. »Wir sollten sie aber dazu ermuntern, zu arbeiten und dann Kinder zu bekommen. Also sollten wir uns ernsthafte Fragen über die Signale stellen, die unser Sozialsystem aussendet.«

Für den Fall, daß Camerons Vorschläge Wirklichkeit werden, fürchtet die Organisation Shelter einen drastischen Anstieg der Obdachlosigkeit. Bereits von 2011 auf 2012 sei diese um 14 Prozent angestiegen. Verantwortlich dafür seien steigende Erwerbslosigkeit und das schlechter werdende soziale Netz. Seit 2010 wurden 18 Milliarden Pfund im britischen Sozialsystem »eingespart«.

Über die Auswirkungen des bisherigen Sozialabbaus auf Familien mit behinderten Angehörigen veröffentlichte in dieser Woche der Thinktank DEMOS eine Langzeitstudie, die im Laufe der letzten zwei Jahre mit fünf Familien durchgeführt wurde. Behinderte werden vom derzeitigen Sozialabbau besonders hart getroffen. Bis 2013 werden 500000 Menschen ihre Beihilfe verlieren. Bis 2014 droht 46 Prozent aller Behinderten der Verlust ihrer Anerkennung als Berufsunfähige. Sie müssen dann eventuell ohne Lohn arbeiten, um die letzten Sozialleistungen zu behalten, die ihnen noch zustehen.

Während die Regierung Berufsunfähige in den Arbeitsmarkt zwingen will, läßt sie 54 REMPLOY-Behindertenwerkstätten schließen. Dadurch verlieren 1752 Menschen ihre Beschäftigung, die bislang in diesen staatlich geförderten Einrichtungen einen 35-Stunden-Job innehatten. Bereits 2008 schloß die Labour-Regierung eine Reihe von REMPLOY-Einrichtungen. 80 Prozent der damals Entlassenen haben bis heute keine neue Arbeit gefunden.

So wird Familien mit behinderten Angehörigen das Leben noch schwerer gemacht. Durch kommunale Budgetkürzungen schließen immer mehr Hilfseinrichtungen, was den Druck auf die Angehörigen drastisch erhöht. Die DEMOS-Studie führt das Beispiel eines körperlich schwerbehinderten Kindes an, dessen Eltern schon mehrere Nervenzusammenbrüche erlitten. Arzttermine können sie aber nicht wahrnehmen, weil sie längere Arbeitszeiten haben, um das Geld hereinzubekommen, das ihnen die Regierung weggenommen hat.

* Aus: junge Welt, Freitag, 29. Juni 2012


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