Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kleine Kriege

London kürzt Militärausgaben

Von Rainer Rupp *

Im Rahmen ihrer radikalen Sparmaßnahmen hat die britische Regierung David Camerons auch bedeutende Einschnitte beim Militärhaushalt gemacht. So soll die Entscheidung über eine 20 Milliarden Pfund teure Modernisierung der »geheiligten« Nuklearwaffen bis zur nächsten Wahl 2015 verschoben werden. Ein guter Teil der Kriegsschiffe und Kampfjets wird bis dahin eingemottet, die Personalstärke aller Waffengattungen stark reduziert. Das habe zur Folge, räumte der Premier im Unterhaus ein, daß Großbritannien »in Zukunft nicht länger an großangelegten Besatzungen im Stil Iraks oder Afghanistans teilnehmen kann«.

Die Kürzungen bedeuten jedoch nicht, daß London sich von seiner interventionistischen Strategie ab- und einer friedfertigen Zukunft zugewandt hat. Auch weiterhin soll es Angriffskriege geben, nur in kleinerem Maßstab. Laut neuem Budget muß das britische Militär trotz geringerer Finanzausstattung weiterhin fähig sein, jederzeit drei militärische Besatzungen gleichzeitig zu bewältigen. So soll für die Okkupation eines Landes im besten Fall eine Brigade von 6500 Soldaten für unbegrenzte Zeit zur Verfügung stehen (derzeit sind allein in Afghanistan 10000 Briten stationiert). Gleichzeitig müssen zwei Interventionen mit geringerer Truppenstärke möglich sein. Zeitlich begrenzt wird mit insgesamt sogar 30000 Soldaten für Besatzungsdienste kalkuliert.

Während des Wahlkampfs im Frühjahr hatte sich Cameron noch engagiert für ein militärisch starkes Großbritannien eingesetzt, das in alter imperialer Tradition fern der Heimat große Kriege führen kann. Nun scheinen Wirtschaftskrise, horrende Staatsschulden und die Realität der leeren Kassen ihn und seine Strategen auf den Boden der Tatsachen geholt zu haben. Die Regierung aus Konservativen und Liberalen hat sogar »heilige Kühe« der Streitkräfte geschlachtet, ein Vorgehen, das noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Bemerkenswert ist, daß London auf warnende Stimmen aus Washington keine Rücksicht nahm. So unglaublich es erscheinen mag, die jahrhundertealte Rolle Großbritanniens als einer der großen Aggressornationen der Welt scheint sich dem Ende zuzuneigen, ausgerechnet nachdem ein außenpolitischer Falke neuer Premierminister wurde.

Die längst überfällige Beschneidung der britischen Kapazitäten, militärisch in fernen Regionen zu agieren, beruht allerdings nicht auf Einsicht und neuer Friedfertigkeit der Regierenden, sondern schlicht auf der Unmöglichkeit, die imperialen Ambitionen noch zu finanzieren. Analoges gilt auch für andere: Demnächst schon könnte die katastrophale Haushaltslage die Hyperimperialisten in Washington auf den gleichen Pfad zwingen. In diesem Fall würden die antiimperialistischen Kräfte am meisten von der Krise in der »entwickelten« Welt profitieren.


Widerstand auf Sparflamme

Großbritannien beschließt brutalstes Sparpaket der Nachkriegsgeschichte

Von Christian Bunke, Manchester **


Als »Wrecking Crew« (Abrißtruppe) bezeichnete das Boulevardblatt The Mirror am Donnerstag (21. Okt.) das britische Regierungskabinett. Am Mittwoch hatten dessen hauptsächlich aus Multimillionären bestehenden Mitglieder johlend, lachend und klatschend der Verkündung des brutalsten Sparpaketes der britischen Nachkriegsgeschichte beigewohnt.

Der von Finanzminister George Osborne vorgestellte Plan sieht Kürzungen in Höhe von insgesamt 95 Milliarden Euro bis 2015 vor, was einer Abschaffung des britischen Sozialstaats gleichkommt. Ziel ist es, das vor allem durch Bankenrettungsmaßnahmen entstandene Staatsdefizit komplett zu beheben.

Die größten Einsparungen wird es im sozialen Wohnungsbau und im Bildungsbereich geben, die um 51 und 40 Prozent gekürzt werden sollen. Städte und Gemeinden müssen künftig auf 27 Prozent ihres Budgets verzichten. In den Bereichen Kultur und Sport, Polizei und Gefängnisse sowie im Transportwesen und beim Klimaschutz werden zwischen 18 und 27 Prozent der bisherigen Haushalte wegfallen. Schätzungen zufolge ist in der öffentlichen Verwaltung jeder sechste Job bedroht, insgesamt sollen 500000 kommunale Angestellte entlassen werden.

Osborne kündigte an, daß staatliche Rentenalter bis 2020 auf 66 Jahre anzuheben, dadurch sollen etwa 5,7 Milliarden Euro pro Jahr eingespart werden. Trotz der ohnehin schon vergleichsweise hohen Studiengebühren an britischen Universitäten sollen diese in Zukunft ihre Sätze beliebig erhöhen können, im Gespräch sind Zahlen von 12800 Euro pro Jahr. Trotzdem werden Universitäten schließen müssen.

Gegen das Sparpaket gab es am Mittwoch (20. Okt.) Proteste und Demonstrationen. Mehrere tausend Menschen demonstrierten in London, jeweils Hunderte in Städten wie Leeds, Nottingham, Hull und Coventry. Für den 23. Oktober sind weitere Demonstrationen, unter anderem in London und Manchester, geplant.

Das Sparpaket wird für alle bürgerlichen Parteien eine Zerreißprobe werden, denn auch die Mittelklasse wird betroffen sein. So erhalten Haushalte mit einem Einkommen von über 48000 Pfund pro Jahr kein Kindergeld mehr. Dies betrifft die Stammwählerschaft der Tories. Gleiches gilt für den Abbau von 20000 Stellen bei der Polizei.

Die Labour-Partei, die nach ihrem Führungswechsel auf eine baldige Regierungsübernahme hofft, wird nicht nur von dem Sparpaket profitieren. Laut Finanzminister Osborne sollen zukünftig Kommunen weitgehende Rechte über ihre Ausgabenverwaltung bekommen. Dies bedeutet, daß anstehende Kürzungen bei Bibliotheken, in der Straßenreinigung, bei Verkehrswesen oder Schulen in Eigenregie abgewickelt und vertreten werden müssen, während sich die Landesfraktion im Parlament gegen die Streichungspolitik ausspricht. Vor allem im stärker proletarisch geprägten Nordengland, in Wales und Schottland werden die Kommunen zum größten Teil von Labour regiert.

Unter der Oberfläche brodelt es im Land. Doch bisher halten die Führungen der großen Gewerkschaften den Widerstand zurück. Der Gewerkschaftsbund TUC will erst im März kommenden Jahres eine Großdemonstration organisieren. Kämpferische Gewerkschaftsführer wie Bob Crow von der Transportarbeitergewerkschaft RMT fordern dagegen die Organisation koordinierter Streiks.

Dennoch formiert sich gewerkschaftlicher Widerstand. In London stehen weitere U-Bahn-Streiks an. Londoner Feuerwehrleute bereiten einen Ausstand gegen Sparpläne und Massenentlassungen vor. Die Führung der Gewerkschaft für Staatsangestellte PCS traf sich am Donnerstag zu einer Sondersitzung, um das weitere Vorgehen zu beraten. Britische Gewerkschaftsführer sind es gewohnt, die Dinge auszusitzen. Dies wird in den kommenden Monaten und Jahren schwierig werden.

** Aus: junge Welt, 22. Oktober 2010


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