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Geld für Kanonen oder für Computer?

Krise zwingt Großbritannien zu Einsparungen

Von Reiner Oschmann *

Spätestens nach der nächstjährigen Parlamentswahl ist Großbritanniens Regierung zu einer Richtungsentscheidung gezwungen: mehr Investitionen in Soziales oder in Militärisches. Beides zugleich geht nicht mehr.

Großbritannien gefällt sich seit Jahr und Tag als Großmacht. Doch der Versuch, in einer Gewichtsklasse zu boxen, die längst über den eigenen Ressourcen liegt, wird immer schmerzhafter. London muss sich entscheiden, und die jetzige Wirtschafts- und Systemkrise macht die Entscheidung schwieriger und zugleich dringlicher: Mehr Investitionen in Bildung und Gesundheit - oder in Kanonen und andere Rüstungsgüter. Erklärungen der Labour-Regierung zeigen, dass die soeben begonnene strategische Überprüfung der Militärausgaben - eine Inventur, die nach der spätestens im Juni 2010 anstehenden Parlamentswahl abgeschlossen sein wird - »Großbritanniens militärische Rolle in der Welt erstmals seit über zehn Jahren dramatisch beschneiden könnte« (»The Guardian«). Genau diese, vorläufig freilich rein theoretische Chance treibt den militärisch-industriellen Komplex zu propagandistischer Mobilmachung.

Die Chefs der größten britischen Rüstungsfirmen haben vergangene Woche auf einer Pressekonferenz in London das Kabinett Gordon Browns aufgefordert, die erwogene Kürzung der Verteidigungsausgaben »umzukehren«. Andernfalls werde Britannien »seinen Platz am Cheftisch der Weltpolitik verlieren«. Solche Appelle an Patriotismus und Großmachtstatus blieben in der Vergangenheit nie ungehört.

Mike Turner, Vorsitzender des Ausrüsterunternehmens Babcock International und früher Chef des mächtigsten britischen Rüstungskonzerns BAE Systems, erklärte, der »große Knüppel« militärischer Macht sei unerlässlich, um »den geschmeidigen Worten« der Diplomatie Nachdruck zu verleihen und Großbritanniens Einfluss in der Welt zu bewahren. Gegenüber dem »Guardian« setzte er hinzu: »Ohne big stick und entsprechende militärische Fähigkeiten würde sich unser Land kein Gehör verschaffen«. Turner, auch Vorsitzender des Rates der Rüstungsfirmen, begründete seine Forderung auch damit, dass die gestiegenen Aufwendungen für die Kriege in Irak und Afghanistan die Modernisierung der britischen Atomstreitmacht in Gestalt der vier mit Trident-Raketen bestückten Vanguard-U-Boote sowie das Projekt zweier neuer Militärflugzeuge gefährden. »Unser Engagement auf den Kriegsschauplätzen in Irak und Afghanistan ist gewachsen, aber die finanziellen Mittel sind nicht im gleichen Maße mitgewachsen.«

Erstmals wurde in den vergangenen Monaten ein britischer Verzicht auf den Kernwaffenstatus breiter öffentlich zur Sprache gebracht. Beobachter schließen beispielsweise nicht aus, dass London versuchen könnte, Trident als Faustpfand in Vorbereitung auf die Überprüfungskonferenz für den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen im nächsten Frühjahr ins Spiel zu bringen.

Ian Godden, Geschäftsführer der Society of British Aerospace Companies, also von Ausrüstern für die Luftwaffe, räumte jetzt ein, die Öffentlichkeit begegne Rüstungsausgaben im heutigen Krisenklima mit zunehmendem Misstrauen. Für viele Menschen seien sie viel weniger dringend als etwa Ausgaben für Erziehung, Bildung und Gesundheit. Tatsächlich bleibt abzuwarten, ob die Öffentlichkeit Kürzungen in diesen Bereichen zugunsten des Militärsektors hinzunehmen bereit ist.

Die britische Rüstungsindustrie ist direkt oder indirekt Arbeitgeber für 300 000 Menschen. Sie ist nach Angaben der Rundfunkanstalt BBC »zu rund drei Vierteln ihres Umsatzes vom Verteidigungsministerium abhängig«. Voriges Jahr hatte das Land, in dem in den vergangenen zwölf Jahren unter Labour weit über eine Million Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie abgebaut wurden, den zweifelhaften Ruhm erlangt, Nummer Eins unter den Waffenexporteuren der Welt geworden zu sein. Als die Regierungsbehörde dies im Juni 2008 mitteilte, wurde sie gefragt, in welchen anderen Exportbranchen Großbritannien einen ersten Platz belege. »UK Trade and Investment« konnte kein einziges Beispiel nennen.

* Aus: Neues Deutschland, 7. September 2009


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