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Auch der englische Nordwesten brennt

Flammen von London griffen auf Manchester und Liverpool über

Von Christian Bunke, Manchester *

In der vierten Nacht der Jugendkrawalle in Großbritannien weitete sich das »Kampfgebiet« endgültig in den englischen Nordwesten aus. Während einige Hundert Polizisten aus Manchester ihren Dienst in der Hauptstadt London schoben, wurde die frühere Industriestadt zu einem Zentrum der Auseinandersetzungen.

Salford, Manchester, Liverpool. Alle Metropolen des Nordwestens erlebten in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch Ausschreitungen. Die Polizei in Manchester nannte die Unruhen die schlimmsten, die es je gegeben habe. Das ist übertrieben. Manchester hat insbesondere in den 80er, aber auch in den frühen 90er Jahren Unruhen erlebt, die den ganzen Großraum der Stadt in Atem hielten. Frühere »Riots« ließen keinen Stein auf dem anderen, die Auseinandersetzungen Dienstagabend blieben dagegen auf die Innenstadt beschränkt.

Salford und Manchester werden gern als leuchtende Beispiele für Regeneration angeführt. Die dunkle Zeit der Thatcher-Ära sei vorbei, heute gebe es eine moderne Dienstleistungs- und Finanzökonomie, heißt es hier. Tausende neue Luxuswohnungen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Innenstadt gebaut, für rund 900 000 Pfund kann man eine kleine Zweizimmerwohnung sein Eigen nennen.

Allein, es gibt viele Schönheitsfehler. Zu viele der Wohnungen stehen leer. Das gilt auch für die neuen feschen Bürogebäude. Die britische Wirtschaft stagniert, was auch an Bürotürmen mit Schildern »for sale« (zum Verkauf) abzulesen ist. Der Wohlstand, der in der Innenstadt zur Schau gestellt wird, ist eine Illusion. Es reicht, zu Fuß den Fluss Irvil zu überqueren und sich nach Salford aufzumachen. Dort plünderten Hunderte Jugendliche am späten Dienstagnachmittag Discountermärkte, unter anderem von Aldi und Lidl. Beteiligt waren auch ältere Leute, einschließlich Rentner.

Nur 200 Meter vom ärmsten Stadtteil entfernt stehen neue Wohnhäuser, die für die Bevölkerung unbezahlbar sind. Damit diese Gebäude gebaut werden konnten, wurden ältere Sozialbauwohnungen abgerissen, Ersatz gab es nicht. Die ehemaligen Bewohner wurden in Randgebiete vertrieben. Während die Luxuswohnungen sprießen, will die Stadtverwaltung in Salford 40 Millionen Pfund bei den ärmsten Teilen der Bevölkerung einsparen. Unter anderem sollen Wohneinrichtungen für Obdachlose ersatzlos geschlossen werden.

Auf der Autobahn M 62 erreicht man von Salford aus an guten Tagen in einer halben Stunde Liverpool. In der Beatles-Stadt grüßt ein riesiges Schild: »Liverpool – City of Culture 2008«. Fragt man Einwohner, bezeichnen sie ihre Stadt als »City of Vultures«, Stadt der Geier. Die Verwaltung erhielt als Kulturhauptstadt Millionenbeträge. Hartnäckig halten sich die Gerüchte, dass das Geld zum Großteil in private Geldbeutel geflossen ist.

Liverpool hat eine kämpferische Tradition. In den 80er Jahren zwang eine von der trotzkistischen Militant Tendency geführte Verwaltung, gestützt durch eine Massenbewegung, die Thatcher-Regierung dazu, Millionenbeträge für die Stadt locker zu machen. Davon wurden Sozialwohnungen, Parks, Schwimmbäder und Jugendeinrichtungen finanziert. Heute sind die meisten davon geschlossen. Die Verwaltung will allein dieses Jahr über 90 Millionen Pfund einsparen.

Die Situation der Liverpooler Jugend, die sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferte, Autos anzündete und Geschäfte plünderte, ist katastrophal. Ein Drittel wächst in Haushalten auf, in denen kein Familienmitglied Arbeit hat. 5,5 Millionen Pfund sollen dieses Jahr aus dem Jugendetat gestrichen werden, das sind 28 Prozent des Gesamtbudgets. Allein 2,1 Millionen wurden dem Jugendsozialdienst Connexions gekürzt.

In Manchester ist die Lage nicht anders. Dort sollen alle Jugendeinrichtungen geschlossen werden. 109 Millionen Pfund sind bereits dieses Jahr aus dem Haushalt gestrichen, 170 Millionen sollen es nächstes Jahr sein. Der öffentliche Dienst ist der größte Arbeitgeber im Nordwesten Englands. Gerade dort aber soll die Axt angesetzt werden. Werden Eltern erwerbslos, trifft das zwangsläufig auch Kinder und Jugendliche. Deren Chancen, im Leben etwas zustande zu bringen, werden durch die Kürzungen blockiert. Die Studiengebühren liegen derzeit bei 9000 Pfund pro Jahr. Beihilfen für Collegestudenten (Colleges sind eine Mischung aus Berufsschulen und Gymnasien) wurden ersatzlos gestrichen.

Die Auseinandersetzungen der vergangenen Tage sind ein deutliches Zeichen aufgestauter Wut und Frustration. Hauptleidtragende waren die Stadtteile, die sowieso nichts haben. Die abgebrannten Autos waren nicht die Autos der Börsenmakler, die die gegenwärtige Wirtschaftskrise zu verantworten haben, sondern der Beschäftigten, deren Jobs abgebaut werden. Dennoch sind sich etliche Jugendliche über die Gründe der Unruhen im Klaren. Einer erzählte der Stadtteilzeitung »Salford Star«: »Lasst es alle wissen, hier geht es um die Kürzungen.«

* Aus: Neues Deutschland, 11. August 2011


Markige Worte aus der Downing Street Nr. 10

Premier Cameron brach seinen Urlaub ab – um in London hilflose Parolen zu verbreiten

Von Ian King, London **


Insgesamt 16 000 Polizisten waren aus allen Teilen Großbritanniens nach London beordert worden, um den Unruhen Einhalt zu gebieten. Tatsächlich blieb es in der Nacht zu Mittwoch in der Hauptstadt relativ ruhig. Die Auseinandersetzungen griffen allerdings auf Manchester, Salford, Birmingham und West Bromwich über. Schockierte Kiezbewohner räumen Trümmer zusammen, Premierminister David Cameron gibt sich unnachgiebig – und uneinsichtig.

Erst als es in London lichterloh brannte, flog Regierungschef David Cameron Hals über Kopf aus der Toskana zurück. Denn auch rechte Zeitungen sehen einen seelenruhig Urlaub machenden Kaiser Nero ungern. Dafür brachte der Premier deftige Sprüche mit: schiere Kriminalität, Räuber, Diebesgesindel, Vandalen, brutale Angriffe auf Feuerwehrleute und Polizisten – zum Kotzen, fauchte der Gebräunte, der wohl seinem verpatzten Urlaub nachtrauerte und mit einer eilig einberufenen Parlamentssitzung am heutigen Donnerstag auch den anderen Abgeordneten das Leben sauer machte. »Unschuldige Familien haben ihr Heim verloren, Geschäftsleute sehen ihre Läden zerstört, Menschen leben in Angst, unser Herz schlägt für die Gesetzestreuen ...«

Nicht falsch. Arme brennen ein Armenviertel nieder – wer hat etwas davon? Die jungen Krawallmacher müssen lernen, Plasmafernseher oder Trainingsschuhe mit Geld statt mit Baseballschlägern zu erwerben. Auch Oppositionschef Ed Miliband sieht das so und stellt sich mit Einschränkungen hinter die harte Linie der Regierenden. Die rechte Zeitung »Daily Mail« heizte die Stimmung an und faselte von entfesselten Kräften des Bösen.

Das ist falsch, weil unvollständig. Erinnern wir uns: Der 29-jährige Schwarze Mark Duggan wurde am vergangenen Donnerstag von der Londoner Polizei in Tottenham getötet, weil er angeblich die Schießerei angefangen hatte. Kein Wort wahr, wie ein Polizeisprecher am Dienstag zugab. Duggan schoss nicht, er wurde erschossen statt verhaftet. Kein Wort der Erklärung oder des Mitleids für die trauernden Angehörigen. Beim Misstrauen, das zwischen Polizei und jungen Schwarzen in den Armenvierteln der Hauptstadt herrscht, reichten die Todesschüsse zum Fanal für gewalttätige Plünderer.

Kein Wunder, behauptet Labours Bürgermeisterkandidat für London, Ken Livingstone. Wenn eine Regierung ihren Jugendlichen Bildungschancen versperrt, die Arbeitslosigkeit absichtlich erhöht, das Schüler-BAföG streicht und zu allem Überfluss auch an der Polizei spart, seien die Gründe der Krawalle schnell gefunden. Der linksliberale »Guardian« blickt noch tiefer. Eine Gesellschaft setze einseitig auf Konsum, schließe aber Gruppen bewusst vom schönen Leben aus. Keine Ausflucht für Drogendealer, Plünderer und Brandstifter, aber eine einsichtigere Erklärung als die des Premiers.

Nur der englische Fußballnationaltrainer Fabio Capello ist insgeheim erleichtert. Wegen der Unruhen fiel das für Mittwochabend angesetzte Freundschaftsspiel im Wembley-Stadion zwischen England und den Niederlanden aus. Da können Capellos überzahlte Jungs einen weiteren Monat warten, bis sie sich und ihren Trainer wieder öffentlich blamieren.

** Aus: Neues Deutschland, 11. August 2011


Dem Prekariat feindlich gesinnt

Alexander Clarkson über Hysterie und Sparpolitik der britischen Regierung ***

Während sich die Situation in London in der Nacht zu Mittwoch entspannte, griffen die Unruhen auf andere britische Städte über. Als Wurzel der Gewalt sehen viele Beobachter die prekäre Situation der an den Ausschreitungen beteiligten Jugendlichen. Die Regierung droht mit Härte.
Alexander Clarkson wuchs in Deutschland auf und studierte in Großbritannien. Der Politikwissenschaftler lehrt am King's College – einer der ältesten und renommiertesten Hochschuleinrichtungen Englands. Im Interview mit Antje Stiebitz für das "Neue Deutschland" (ND) vertritt er ausdrücklich seine persönliche Meinung.


ND: Premierminister David Cameron hat den Krawallmachern harte Strafen angekündigt. Ist seine Reaktion angemessen?

Clarkson: Das hängt davon ab, wie man »hart« definiert. Cameron hat unüberlegt reagiert und das ist zutiefst problematisch. Doch man muss auch sagen, dass es von der konservativen Rechten bereits Rufe nach dem Einsatz der Armee und von Gummigeschossen gab, das ist hart. Solche Überreaktionen wollte Cameron eindämmen. Er befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Er wird von Labour, aber auch von der liberaldemokratischen Partei, die Teil seiner Koalition ist, für die ganzen Kürzungen der Sozialprogramme, die zum Teil an diesem Schlamassel schuld sind, mitverantwortlich gemacht. Und er steht unter dem Druck der konservativen Rechten, die ihn für das systemische Versagen der Polizei verantwortlich machen.

Was halten Sie an seiner Reaktion für unüberlegt?

Er hat den Begriff »fight-back« verwendet. Der Ausdruck stammt eigentlich von der britischen Zeitung »Daily Mail«. Und Cameron hat geäußert, dass dies auch eine Zeit des Widerstandes sei. Das ist auf der einen Seite gut, geht es um zivilen Widerstand. Aber auf der anderen Seite bilden sich in mehreren Londoner Stadtteilen jetzt Bürgermilizen. Es bilden sich da Selbstschutzgruppen, auch mit ehemaligen Irak- und Afghanistansoldaten. Diese Form der »systemstabilisierenden Selbstjustiz« kann entgleisen. Beispielsweise haben sich die indischen Sikhs oder auch muslimische Organisationen zum Selbstschutz organisiert. So etwas kann schnell aus dem Ruder laufen.

Warum ist aus Ihrer Sicht so wenig von der Perspektivlosigkeit der Jugend, von sozialen Kürzungen, von Rassismus und einer sich schamlos bereichernden Elite die Rede?

Von gewissen Seiten wird durchaus auf diese Probleme eingegangen. Doch was gerade passiert, sind Panikreaktionen. Es handelt sich schließlich auch um kriminelle Verhaltensweisen. Gerade die Kommentarseiten der üblichen Zeitungen haben durchaus davon gesprochen, dass es hier starke soziale Hintergründe gibt. Ich denke, darüber wird in den nächsten Wochen und Monaten gesprochen werden. Zur Zeit herrscht wirklich Panik und Hysterie. Um auf diese Probleme systematisch einzugehen, braucht man Wochen der Reflexion. Dafür ist es noch zu früh. Ich würde auch nicht sagen, dass es um Rassismus geht. Es geht um eine tiefe Abneigung und Feindlichkeit der Oberschicht gegenüber dem Prekariat. Diese randalierenden Gruppen bestehen aus weißen, aus asiatischen und afrikanischen Jungs.

Es wird immer davon gesprochen, dass es sich bei den Randalierern um eine »bestimmte Schicht« handelt, so, als seien Schichten etwas Gottgegebenes. Aber diese Schichten werden von der Politik kreiert. Warum wird das nicht stärker thematisiert?

Weil die drei Mainstream-Parteien versuchen, ihre gescheiterte Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verschweigen. Das ist eine sehr unbequeme Frage. Da sprechen wir über 20 oder 30 Jahre der gescheiterten Politik. Da müssen sich die Parteien eingestehen, dass sie nicht erfolgreich gearbeitet haben. Darin liegt paradoxerweise die Chance für Labour-Chef Ed Miliband, denn er verkauft sich als derjenige, der mit der Tony-Blair-Zeit bricht. Wenn er selbstkritisch mit der Situation umgeht, kann er Kapital daraus schlagen. Denn das Thema der sozialen Ungerechtigkeit, des Prekariats, liegt brach. Die andere interessante Komponente sind die schottischen Nationalisten. Das wird in Deutschland sehr unterschätzt. Sie könnten jetzt behaupten, dass Schottland seine Unabhängigkeit braucht, um den sozialen Frieden zu wahren.

Glauben Sie denn, dass der Sparkurs jetzt geändert wird?

Das ist die große Frage. Es wird wieder in die Polizei investiert werden, da die stark abgebaut wurde. Das ist einer der Gründe, warum in den ersten zwei Tagen so viele Fehler gemacht wurden. Und die höhere Führungsebene ist noch mit dem Murdoch-Skandal beschäftigt. Die Sergeants der mittleren Führungsebene müssen sich jetzt neu um ihre Stellen bewerben. Die Polizei ist also auch mit sich selbst beschäftigt. Und diejenigen, die zwischen Polizei und Bevölkerung vermittelt haben, sind alle in ihrer Existenz bedroht.

Wann hat der Sparkurs begonnen?

Viele der sozialen Organisationen wurden während der Deindustrialisierung der Thatcher-Zeit gegründet. Und sie wurden zum größten Teil auf lokaler Basis finanziert, nicht von der Zentralregierung. Was die Zentralregierung wegkürzte, fing die lokale Basis auf. Doch die Kommunen stehen jetzt selbst so unter finanziellem Druck, dass sie es nicht mehr auffangen können.

Ist das, was jetzt gerade passiert, das britische Pendant zu den Aufständen in den Pariser Banlieues und sehen sie einen Zusammenhang zu den Aufständen der arabischen Jugend?

In den Banlieues damals gab es wenigstens Strukturen. Es gab Führungspersönlichkeiten innerhalb der Viertel, die Einfluss ausüben konnten. Es gab Menschen, mit denen man verhandeln konnte. Manche der Forderungen waren abstrus oder nicht machbar, aber es gab immer einen politischen Faktor. Doch mit wem soll man hier verhandeln? Die sozialen Organisationen, die vermittelt hätten, sind weggekürzt worden und die Plünderer selbst haben keine Chefs. Es ist ein krasser Materialismus, der da hochkommt.

Sehen Sie Lösungen?

Durch die Sicherheitsmaßnahmen, die jetzt ergriffen werden, wird sich die Lage wahrscheinlich beruhigen. Doch eigentlich müsste die Regierung eine völlige Kehrtwende in der Sozialpolitik durchführen. Die sozialen Programme wieder aufbauen, eine Wirtschaftsbasis aufbauen. Sehen Sie, England ist viel deindustrialisierter als Deutschland oder die USA. Wir brauchen Perspektiven für Menschen jeglichen Talents und jeglicher Herkunft, die manchmal nicht akademisch oder für die Dienstleistungsindustrie veranlagt sind. Das ist alles nicht so einfach zu lösen.

*** Aus: Neues Deutschland, 11. August 2011


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