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Aufstand der Underdogs

Ausgegrenzt: Sozialkürzungen, Perspektivlosigkeit und allgegenwärtiger Rassismus trugen zur Gewaltexplosion der vergangenen Tage in Großbritannien bei

Von Tomasz Konicz *

Nachdem eine massive landesweite Polizeimobilisierung und Dauerregen den Ausschreitungen und Plünderungen in mehreren britischen Städten ein vorläufiges Ende gesetzt hatten, ging Premierminister David Cameron daran, seine Schlußfolgerungen aus den schwersten Unruhen zu ziehen, die Großbritannien seit den 1980er Jahren erschütterten. Der konservative Regierungschef kündigte eine Politik der harten Hand gegenüber den marginalisierten Bevölkerungsschichten in den Ghettos Großbritanniens an, die mit einen »Gegenschlag« eingeleitet würde. »Teile unserer Gesellschaft sind nicht einfach nur kaputt, sondern krank«, dozierte Cameron am vergangenen Mittwoch.

Krankes System

Zu den Ursachen dieser »Krankheit« äußerte sich Hardliner Cameron lieber nicht. Sonst müßte auch seine bisherige Regierungspolitik einer kritischen Analyse unterzogen werden. Das Kabinett Cameron hat kurz nach Amtsantritt eines der schwersten Austeritätsprogramme der britischen Geschichte beschlossen. Es sieht Haushaltskürzungen in Höhe von 83 Milliarden Pfund (ca. 95 Milliarden Euro) bis 2015 vor. Ein großer Teil der Ausgabenkürzungen, mit dem das Haushaltsdefizit von mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eines einzigen Jahres (2010) abgebaut werden soll, entfällt auf den Sozialsektor.

Diese Einschnitte – bei denen u.a. die Aufwendungen für Kindergeld, Jugendförderung oder Wohnzuschüsse gekürzt wurden – treffen die verarmten und unter hoher Arbeitslosigkeit leidenden Stadtteile und Regionen des Vereinigten Königreichs (offiziell: United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland) besonders hart: »Es wird Unruhen geben«, warnte ein Jugendlicher aus dem Londoner Stadtteil Tottenham gegenüber dem Guardian schon im Juli. Gerade waren nahezu alle Jugendclubs dort aus Geldmangel geschlossen worden. Von dem rabiaten Kahlschlag im öffentlichen Dienst, dem in den nächsten vier Jahren mehr als 400000 Arbeitsplätze zum Opfer fallen sollen, sind landesweit Jugendhilfsprojekte überdurchschnittlich stark betroffen, beklagte der Gewerkschaftler Kerry Jenkins: »Jede vierte Einrichtung (»youth service«) in England sieht sich mit katastrophalen Kürzungen zwischen 21 bis 30 Prozent konfrontiert.« Dies sei dreimal höher als des sonstige Kürzungsniveau im Kommunalbereich. An die 3000 Jugendbetreuer werden nicht mehr bezahlt und müssen gehen.

Es fehlte nicht an Warnungen: Noch am 2. August mahnte der Kriminologe John Pitts, der Kommunen bei Gewaltprävention berät, daß die Kürzungen zu einer Zunahme gewalttätiger Straftaten in »diesem Sommer« führen werden. Der Vorsitzende des britischen Nationalen Kinderbüros, Sir Paul Ennals, prognostizierte, daß die Kombination aus grassierender Arbeitslosigkeit und Sozialkürzungen die Bindungen der marginalisierten Jugendlichen an ihre Stadtviertel »lösen«, und zu einer grundlegenden »Entfremdung« führen werde. »Da draußen ist eine Generation ohne Hoffnung, ohne Inspirationen«, erläuterte die in Tottenham lebende Lara Oyedel unter Verweis auf die grassierende Jugendarbeitslosigkeit in diesem Ghetto diese Woche gegenüber Medienvertretern: »Diese Gesellschaft brütet eine ganze Generation von jungen Menschen aus, die nicht mehr erwarten können, irgend­etwas Produktives in ihrem Leben erreichen zu können.«

Selbst der höchste Repräsentant der anglikanischen Kirche hatte das Kahlschlagsprogramm der Regierung scharf kritisiert. »Mit bemerkenswerter Geschwindigkeit entwirft sie eine radikale langfristige Politik, für die sie niemand gewählt hat«, schreibt Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury, in einem Zeitschriftenaufsatz. Er verstehe, daß vielen Briten nicht mehr ganz klar sei, »was Demokratie in so einem Zusammenhang noch bedeuten kann«.

Leben von Sozialtransfers

Die Jugendlichen in den Ghettos, deren Vorfahren zumeist aus den Kolonien des ehemaligen Empire stammen und jetzt als britische Underdogs (stammt von »der unterlegene Hund«) gelten, konnten in den »Boomjahren« bis 2007 nichts gewinnen und sind nun am stärksten von der Krise betroffen. Die Jugendarbeitslosigkeit auf der Insel ist von 12,2 Prozent (2000) auf knapp 20 Prozent (2010) angestiegen. Die einer ethnischen Minderheit zugehörigen Bürger bilden auch den größten Teil der britischen Unterschicht. In London gehören rund 70 Prozent der in »Einkommensarmut« lebenden Menschen dieser Gruppe an. In den Armutsbezirken der Städte lebt rund ein Drittel der Bevölkerung von den Sozialtransfers, die nun gekürzt werden.

Die Plünderungen bei den jüngsten Unruhen führte auch der Kriminologe Pitts auf die »soziale Exklusion« der überwiegend jugendlichen Täter zurück. Diese würden von frühester Jugend an mit »Werbung bombardiert«. Es handle sich um »junge Menschen, die nichts zu verlieren haben«. Hoffnung auf irgendeine Art von sozialen Aufstieg können sie sich kaum machen. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2010 weist Großbritannien die niedrigste soziale Mobilitätsrate aller Mitgliedsstaaten auf. Die immer noch von Standesdünkel geprägte und in diversen altertümlichen Ritualen verhaftete britische Gesellschaft weist insbesondere in der Hauptstadt eine krasse soziale Spaltung auf. Die Bewohner der Hochhausghettos leben in Sichtweite zu den gläsernen Banktürmen des Londoner Finanzdistrikts. Die reichsten zehn Prozent der Einwohner Londons besitzen 275mal mehr Vermögen als das ärmste Zehntel. In kaum einem anderen europäischen Staat ist die Kluft zwische arm und reich tiefer als in Großbritannien.

Das Anwachsen der Klasse von »Ausgestoßenen« hat auch mit der schleichenden Deindustrialisierung des seinerzeit ersten entwickelten kapitalistischen Staates der Welt zu tun. Der Anteil der warenproduzierenden Industrie am BIP Großbritanniens liegt gerade noch bei 16 Prozent. Das entspricht in etwa dem Niveau der südeuropäischen Krisenländer Griechenland und Spanien. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise konnte der britische Finanzsektor durch die gezielte Förderung einer Defizitkonjunktur die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs anheizen. Mit den nun eingeleiteten Haushaltskürzungen scheint der konjunkturelle Abwärtssog allerdings zuzunehmen: Die Anzahl offiziell registrierter Arbeitsloser soll Prognosen zufolge noch in diesem Jahr von 2,5 auf 2,7 Millionen Menschen anwachsen, während die Bank of England am vergangenen Mittwoch ihre Wachstumsprognose für 2011 von 1,75 auf magere 1,4 Prozent Zuwachs des BIP reduzieren mußte.

* Aus: junge Welt, 13. August 2011


Sprachlos

Straßenschlachten in Englands Städten

Von Werner Pirker **


Für den britischen Premier Cameron sind die Jugendkrawalle in Englands Großstädten »pure Kriminalität«. Was sollte dem Tory-Schnösel dazu auch schon anderes einfallen? Die Einsicht etwa, daß die neoliberale Sparwut auf Kosten der Ärmsten dem sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht unbedingt förderlich ist?

Damit soll keineswegs gesagt sein, daß es sich bei den Zerstörungen, Plünderungen und Brandstiftungen um eine legitime Widerstandsform handelt. Zumal die Leidtragenden der sinnlosen Zerstörungswut des randalierenden Nachwuchses nicht die Leute aus der Londoner City, sondern das eigene soziale Umfeld, die Bewohner der vernachlässigten, heruntergekommenen Stadtteile sind. Und natürlich ist ein gewaltiges Maß an krimineller Energie mit im Spiel. Die Lust an der »Action«, an abenteuerlichen Straßenschlachten spielt sicher auch eine wichtige Rolle. Doch aus Jux und Tollerei ist dieser Massenaufruhr nicht entstanden. Er begann als zunächst friedlicher Protest gegen die Polizeiwillkür, der sich an einem Einzelfall – der Erschießung eines farbigen Mannes – entzündete. Daß diese Hinrichtung einen Flächenbrand auslösen konnte, läßt sich nur damit erklären, daß brutale Polizeiübergriffe in englischen Großstädten, speziell in »Problemvierteln«, das heißt Gegenden mit einem hohen Arbeitslosen- und Migrantenanteil, auf der Tagesordnung stehen. Haß auf eine oft rassistisch agierende »Ordnungsmacht« und das allgemeine Empfinden sozialer Ungerechtigkeit bilden den Hintergrund für den Ausbruch massiver Gewalt in den Elendszonen der Metropolen.

Es ist ein Aufstand der Empörten, der London, Liverpool, Manchester, Bristol und andere urbane Zentren erfaßt hat. Aber kein solcher wie in Madrid oder Athen. Oder in Kairo. Oder neuerdings in Israel. Es ist ein sprachloser Aufruhr – ohne politische Losungen, Transparente und Flyer. Doch die brennenden Viertel von London sind wie alle anderen sozialen Unruheherde dieser Welt Ausdruck der tiefen Krise des kapitalistischen Systems. Es ist eine allgemeine Krise: Beginnend mit der amerikanischen Schuldenkrise über die Euro-Krise bis zu der dem Krisenmanagement geschuldeten Verschärfung des sozialen Antagonismus. Aber es ist keine revolutionäre Krise. Dazu fehlt die sozialistische Perspektive. Mit der kapitalistische Krise einher geht die Krise der revolutionären Alternative. Aber es muß ja auch nicht gleich eine revolutionäre sein. Erforderlich ist ein Bruch mit der neoliberalen Entwicklungslogik, eine Beendigung der desaströsen Poltik der Umverteilung nach oben und die Aushungerung der Kriegsfurie.

Die Londoner konservativ-liberale Regierungskoalition wird den Jugendaufruhr unter dem Beifall der vielzitierten Zivilgesellschaft und der Mithilfe von Bürger-Selbstschutzkomitees mit großer Härte zu unterdrücken wissen, die Ursachen des Konfliktes damit aber nicht aus der Welt schaffen.

** Aus: junge Welt, 11. August 2011 (Kommentar)


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