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In Großbritannien nimmt der Sieger alles

Neues Wahlrecht hat beim heutigen Referendum kaum eine Chance

Von Ian King, London *

In der Wiege der modernen Demokratie gibt es noch immer kein gewähltes Staatsoberhaupt und ein veraltetes Mehrheitswahlsystem. Zumindest das soll sich heute (5. Mai) mit einem Referendum ändern. Doch die Chancen für eine von den Liberaldemokraten angestrebte Wahlrechtsreform in Großbritannien sind nicht gut.

Das britische Mehrheitswahlrecht diskriminiert kleine Parteien, um stabile Mehrheitsregierungen im Lande zu sichern. Vor einem Jahr warf das Volk Gordon Browns Labour-Regierung hochkant hinaus, traute aber offenkundig auch der Tory-Opposition nicht. Es entstand eine Patt-Situation, die das alte Wahlrecht eigentlich verhindern sollte: Eine Koalitionsregierung wurde nötig. Als Bedingung für den Eintritt in Camerons rechte Regierung forderte und bekam das Häuflein der Liberalen die Volksabstimmung übers Wahlrecht – und musste dafür radikale Sozialkürzungen, eine höhere Mehrwertsteuer und die Verdreifachung der Studiengebühren schlucken.

Eine Änderung des Wahlsystems sollte den Anfang einer neuen Art von kooperativer Politik in Großbritannien einläuten, erklärte seinerzeit Vizepremier Nick Clegg, der Führer der Liberalen. Bisher wählen die Briten nach einem Mehrheitswahlrecht: Pro Wahlkreis kandidieren mehrere Kandidaten, wer die meisten Stimmen bekommt, gewinnt und zieht ins Parlament ein. Alle anderen Stimmen fallen unter den Tisch.

Doch die Hoffnung war trügerisch. Erstens versprachen Camerons Tories nur, die Abstimmung abzuhalten, nicht aber, für eine tatsächliche Änderung des Wahlrechts einzutreten. Die Riege der Tory-Minister, unterstützt von alten Labour-Kämpen wie Tony Blairs Stellvertreter John Prescott und dem ehemaligen Innenminister John Reid, verlangen inbrünstig, das alte Mehrheitswahlrecht beizubehalten. Ohnehin steht kein reines Verhältniswahlrecht zur Debatte, sondern nur das »alternative Wahlrecht«.

Wähler sollen danach die Kandidaten auf die Plätze 1, 2 oder 3 setzen können, statt nur ein Kreuzchen zu machen. Die Stimmen unterlegener Kandidaten sollen den vorn Platzierten übertragen werden, bis einer die magische Grenze von 50 Prozent plus eine Stimme erreicht. Teurer, komplizierter, nicht gerechter sei das, sagen die Kritiker, denn ein Verlierer in der ersten Runde könnte sich mit Hilfe der »umverteilten« Stimmen doch noch durchsetzen.

Labour-Chef Ed Miliband setzt dagegen auf ein Ja zur Wahlrechtsänderung und sucht nach politischen Anknüpfungspunkten zu den in konservativer Gefangenschaft schmachtenden letzten Linksliberalen. Wie den Ökonomen Cable, der erst kürzlich eine Cameron-Rede gegen »farbige Einwanderung« scharf kritisierte. Wer aber bei den Ja-Sagern fehlte, war ausgerechnet der Liberalenchef selbst. Nick Clegg gilt nach einem knappen Jahr Regierungszeit als so beschädigt, dass die eigene Partei ihn nicht einmal bei den Sheffielder Kommunalwahlen auftreten lässt, um die Chancen ihrer dortigen Kandidaten nicht zu verspielen. Dabei hat Clegg sogar seinen Wahlkreis in der nordenglischen Stahlmetropole.

Trotz des Promi-Einsatzes werden die meisten Briten den Urnen wohl fernbleiben. In London, wo erst nächstes Jahr Wahlen anstehen, rechnet man mit einer Wahlbeteiligung von nur 15 Prozent, wegen der gleichzeitigen Parlamentswahlen in den keltischen Landesteilen dürfte sie dort etwas höher ausfallen. Da Schottland, Wales und Nordirland das alternative Wahlrecht für ihre Parlamente besitzen, könnte dies mindestens dort auf ein knappes Ja für das neue Wahlsystem deuten. Laut Umfragen führen die Verteidiger des bestehenden Mehrheitswahlrechts landesweit jedoch mit deutlichem Vorsprung. Eine demütigende Niederlage für die Reformer wäre für Clegg fatal. Gerade deshalb werden wohl viele Labour-Anhänger entgegen Milibands Rat mit Nein stimmen und dadurch das Mehrheitswahlrecht absichern.

Der Liberalenchef sieht im Referendum auch »das Ende der ersten Phase« der Koalition mit den Tories. Danach werde es beiden Parteien möglich sein, ihre unterschiedlichen Sichtweisen offener zum Ausdruck zu bringen. Das Wahlrecht ist einer von vielen Streitpunkten in der Regierungskoalition, in der sich das Klima zuletzt deutlich abgekühlt hatte. Die Befürworter des Mehrheitswahlrechts führten eine Kampagne der »Lügen, Desinformation und Unehrlichkeit«, hatte Clegg zuvor der Zeitung »The Independent« gesagt. Der konservative Premierminister Cameron verteidigte am Dienstag in der BBC erneut sein striktes Nein. Das bisherige Wahlsystem, das seiner Partei nach Meinung von Wahlforschern erhebliche Vorteile bringt, sei einfach und fair. Es gebe aber keinen Grund zu glauben, dass die Koalition an dieser Frage zerbrechen würde.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2011


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