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Panik vor Referendum

Am Donnerstag entscheiden die Schotten über ihre Unabhängigkeit von London

Von Christian Bunke, Manchester *

In den letzten Tagen vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum herrscht unter den britischen Eliten Panik. Dabei hat aus der Sicht des britischen Bürgertums alles so gut angefangen. Über lange Zeit hatte das unionistische Lager die Nase vorn. Jetzt ist es unmöglich, das Wahlergebnis vorherzusagen. Ein »Ja« zur Unabhängigkeit ist eine echte Möglichkeit geworden.

Deshalb wird eine beispiellose Angstkampagne gegen die schottische Bevölkerung gefahren. Die Deutsche Bank hielte eine schottische Unabhängigkeit für »eine katastrophale Entscheidung, die zu einer Wirtschaftskrise führen wird«. Banken wie die Royal Bank of Scotland, seit Beginn der Finanzkrise teilverstaatlicht, drohen mit dem Abbruch ihrer Zelte und der Unternehmensverlagerung nach Süden. Supermarktketten kündigen Preissteigerungen an. Bauunternehmen raten ihren Beschäftigten, am kommenden Donnerstag mit »Nein« zu stimmen, weil ein unabhängiges Schottland negative Folgen auf die Jobsicherheit haben könne.

Auf einer Pressekonferenz mit dem Parteichef der Scottish National Party (SNP), Alex Salmond, fragte eine ZDF-Reporterin, was denn eigentlich der Unterschied zwischen Schotten und Engländern sei. Im Ausland werde das nicht verstanden. Doch es geht nicht um nationale oder ethnische Unterschiede, sondern um soziale Fragen.

»Bei dieser Abstimmung habt ihr die einmalige Chance, später euren Kindern in die Augen sehen und sagen zu können, ich habe dazu beigetragen, daß die Menschen in Schottland nie mehr unter einer konservativen Regierung leiden werden.« Mit diesem Satz begründet der sozialistische Politiker Tommy Sheridan seine Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit.

Sheridan tourt gerade durch Schottland. »Hoffnung statt Angst« ist seine Botschaft. Zusammen mit anderen sozialistischen Organisationen und linken Gewerkschaften will er die Vision eines sozialistischen Schottlands verbreiten. Es geht um Forderungen, die Kürzungspolitik zu beenden, die Banken zu verstaatlichen und die Sozialsysteme auszubauen. Hunderte Menschen nehmen jeweils an den Veranstaltungen teil, oft reicht der Platz in den gemieteten Hallen nicht aus.

Die bürgerliche SNP vertritt im Gegensatz dazu die Vision eines wirtschaftsfreundlichen Schottland. Sie will die Atomwaffen auf schottischem Boden loswerden, aber gleichzeitig in der NATO bleiben. Sie fordert ein »Ende der Herrschaft aus Westminster«, will aber gleichzeitig die britische Königin als Staatsoberhaupt behalten. Auch eine eigene Währung soll es nicht geben. Die SNP strebt eine Währungsunion mit England, Wales und Nordirland an. Letzteres wird in Westminster abgelehnt.

Im Fall der Unabhängigkeit würde Schottland sofort unter massivem wirtschaftlichen und politischen Druck britischer und internationaler Kapitalinteressen stehen. Ein unabhängiges Schottland unter Führung der SNP könnte die sozialen Spannungen im Land nicht lösen. Da kommt ein verzweifeltes Angebot aus dem unionistischen Lager gelegen. Der ehemalige Premierminister Gordon Brown versprach in einer Rede anscheinend in Absprache mit dem britischen Premierminister Cameron, im Falle des Verbleibs Schottlands im Vereinigten Königreich einen detaillierten Plan für eine weitreichende Autonomie aufzustellen.

Dieses Angebot wurde von der SNP als »zuwenig, zu spät« abgelehnt. Dabei käme ein knappes »Nein« der Partei nicht ungelegen. Man müßte keine Regierungsverantwortung übernehmen und könnte dennoch behaupten, zusätzliche Rechte für Schottland erkämpft zu haben.

Ursprünglich wollte die SNP die Möglichkeit einer »weitestgehenden Autonomie« auf dem Stimmzettel haben. Das wurde seinerzeit von Cameron abgelehnt, in der Hoffnung, der SNP durch ein Referendum eine politische Niederlage zufügen zu können. Jetzt sind es die britischen bürgerlichen Eliten, die eine Niederlage befürchten müssen. Sie werden in den kommenden Tagen nichts unversucht lassen, sie zu verhindern.

* Aus: junge Welt, Montag 15. September 2014


McNukes? Nein danke!

Eine Kernfrage beim Unabhängigkeitsreferendum in Schottland sind Britanniens atomare Waffen

Von Reiner Oschmann, Edinburgh **


Ist das Referendum am Donnerstag nicht erfolgreich, wird die britische Kernwaffenstreitmacht, derzeit allein in Schottland stationiert, ab 2016 für weitere 100 Milliarden Pfund modernisiert.

Die britischen Kernwaffen sind gegenwärtig in Gestalt von vier mit Trident-Raketen und 160 Sprengköpfen bestückten Vanguard-U-Booten auf Basen in Coulport und Faslane, nordwestlich von Schottlands größter Stadt Glasgow stationiert. Die Diskussion um ihre Zukunft ist eine der Kernfragen bei der Volksabstimmung. Es bedarf keiner Hellseherei, dass das Referendum mit einem rauschenden Ja beantwortet würde, hieße die einzige Frage nicht: Sollte Schottland ein unabhängiges Land sein, sondern: Sollten Britanniens Kernwaffen aus Schottland verschwinden?

Die Opposition gegen die weitere Stationierung der McNukes in schottischen Gewässern ist lange belegt. Sie eint linke und rechte, arme und reiche Schotten. Aber die Stationierung und – beschlossene – Modernisierung der Atomwaffen bildet nur einen, wenn auch besonders wichtigen und heiklen Teilaspekt des Referendums. Die Regionalregierung unter dem Ersten Minister Alex Salmond von der seit 2011 in Edinburgh allein regierenden Scottish National Party (SNP) hat sich Schottlands Kernwaffenfreiheit im Falle einer Referendumsmehrheit zum frühestmöglichen Zeitpunkt verpflichtet – sollte sie weiter im Amt sein, in der ersten auf die Unabhängigkeit folgenden Amtsperiode. Das hieße spätestens 2021. Die Zentralregierung in London lehnt die Unabhängigkeit ab, hofft auf ein Nein im Referendum und will bei diesem Ergebnis Schottland auch weiter als alleinigen Standort von Britanniens Atomwaffen erhalten.

Die Unabhängigkeitsbefürworter, ein breites und buntes Bündnis aus Regionalregierung, SNP, Grünen und vielen überparteilichen Initiativen, die in der Kampagne »Yes Scotland« zusammenarbeiten, betrachten das Festhalten an Kernwaffen im Norden als Verschwendung von Mitteln und als Gefahr für die Bevölkerung, weil es Schottland im Konfliktfall zum Vorzugsziel mache. Das Weißbuch der Regierung in Edinburgh, vorigen November unter dem Titel »Scotland’s Future« herausgegeben und auf 650 Seiten als Wegweiser in die Unabhängigkeit gedacht, nennt Londons aktuelle Verteidigungspolitik einen der dringlichsten Unabhängigkeitsgründe: »Seit Jahrzehnten sind wir Teil eines Westminster-Systems, das sich wie eine Weltmacht aufführt, indem sich Britannien an militärischen Interventionen in Übersee beteiligt und Kernwaffen vorhält.« Milliarden Pfund seien bereits für derlei Waffen verschwendet worden, die niemals eingesetzt werden dürften. Jetzt gehe es um weitere 100 Milliarden Pfund für ein modernisiertes Waffensystem. Dabei sei Trident »mit seiner allgemeinen und inhumanen Zerstörungskraft eine Beleidigung elementarsten menschlichen Anstands«.

Die schnellstmögliche Entfernung der Kernwaffen gehört zu den fünf Prioritäten, die die heutige SNP-Regierung für ein unabhängiges Schottland definiert hat. Die vier anderen lauten: Bekenntnis zu einem Verteidigungshaushalt von 2,5 Milliarden Pfund (das wäre eines der kleinsten Rüstungsbudgets in der NATO); Aufbau eines seegestützten Grenz- und Küstenschutzes; schrittweiser Aufbau nationaler Streitkräfte mit regulär 15 000 Mann; Neubestimmung des Militärerbes, einschließlich des Umbaus der Basis Faslane zum konventionellen Stützpunkt und zum Hauptquartier aller schottischen Teilstreitkräfte.

Das alles freilich ist Zukunftsmusik. Ob sie je angestimmt und Schottland atomwaffenfrei werden kann, hängt nicht nur vom Referendumsresultat ab. Auch der seit Langem mit Warnungen und Drohungen ausgeübte Druck Londons, der USA und der NATO soll die Unbotmäßigkeit der Unabhängigkeitsverfechter erschüttern und so eine neue Generation von Atomwaffen in Schottland ermöglichen. Bei keinem anderen Einzelthema geht es um so existenzielle Fragen wie hier.

Es überrascht daher nicht, wenn auch Zweifel geäußert werden, ob die Regionalregierung wirklich willens und stark genug ist, dem Druck aus London, Washington und der NATO zu widerstehen. Auch die Regierung eines unabhängigen Schottlands werde gezwungen sein, mit London über die Beibehaltung der Trident-Basen zu verhandeln, sagen die einen. Die SNP werde das Versprechen der Atomwaffenfreiheit bestenfalls als Faustpfand einsetzen, um letztlich ganz andere Fragen – etwa eine Zustimmung Londons zur Währungsunion Schottland/Rest-Königreich, was London derzeit ausschließt – durchzusetzen, meinen die anderen.

In einer Parlamentsdebatte in Edinburgh auf solche Zweifel angesprochen, antwortete Alex Salmond: »Es ist unvorstellbar, dass eine unabhängige Nation die weitere Anwesenheit von Massenvernichtungswaffen auf ihrem Territorium dulden würde.« Und Stellvertreterin Nicola Sturgeon entgegnete dem Verfasser dieser Zeilen am Rande eines Bürgerforums im Marktstädtchen Selkirk an der Grenze zu England auf dessen Frage, ob die Kernwaffenfreiheit Gegenstand eines Kompromisses sein könne oder unverhandelbar sei: »Die Kernwaffenfrage ist im Grundsatz nicht verhandelbar. Natürlich müssen Termin- und Ablaufmodalitäten eines so komplexen Problems von einem unabhängigen Schottland mit London ausgehandelt werden, aber prinzipiell werden wir unsere Position auf keinen Fall aufgeben.« Es könnte also sein, dass die Uhr für die McNukes demnächst zu laufen beginnt.

** Aus: neues deutschland, Montag 15. September 2014


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