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"Leading from Behind" – die neue Obama-Doktrin?

Ein Beitrag von Thomas Horlohe in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation):
Die Weltmacht USA muss militärisch kürzer treten. Für die Streitkräfte werden jährlich zwar immer noch über 660 Milliarden US-Dollar ausgegeben. Doch die Jahre der stetigen Zuwachsraten sind vorbei. Die Schuldenkrise zeigt Wirkung. In den kommenden zehn Jahren muss das Pentagon rund 500 Milliarden Dollar einsparen – möglicherweise sogar noch mehr.
Vor diesem Hintergrund hat die US-Regierung in der vergangenen Woche eine Neuausrichtung der Verteidigungspolitik angekündigt. Es wird weniger Waffensysteme geben, zugleich werden neue Prioritäten gesetzt. Washington will sich künftig weniger auf Europa, sondern stärker auf die asiatisch-pazifische Region konzentrieren. Bereits vor dieser Ankündigung sorgte die Politik von Präsident Obama für Diskussionsstoff. Einzelheiten von Thomas Horlohe:


Manuskript Thomas Horlohe

Was steckt eigentlich hinter Präsident Obamas Außen- und Sicherheitspolitik? Gibt es eine Weltanschauung, die sie erklärt? Ein Leitmotiv, das sie inspiriert? Diese Fragen beschäftigen die Beobachter in den Denkfabriken und Redaktionen Washingtons seit längerem. Doch sehr zu ihrem Leidwesen ist es ihnen bislang nicht gelungen, den Außen- und Sicherheitspolitiker Barak Obama zu entschlüsseln.

Der US-Präsident setzte sich zum Ziel, die verlustreiche Besetzung des Irak zu beenden. Den sogenannten Krieg gegen den Terror wollte Obama entschlossen fortführen. Das erste Ziel hat er erreicht. Mit der gezielten Tötung Osama bin Ladens bewies Obama, dass er es mit dem zweiten Vorhaben ernst meint und auch hier erfolgreich ist. Mithin ist klar, wie er mit dem schweren außenpolitischen Erbe seines Vorgängers umgeht. Aber wofür steht er selbst? Die dramatischen Ereignisse des Arabischen Frühlings, die Volksaufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen, zwingen den ersten Mann im Weißen Haus, Farbe zu bekennen. Seit einigen Wochen macht in Washington das Wort von der Obama-Doktrin die Runde.

Zu dieser Entwicklung trug der langjährige US-Verteidigungsminister Gates maßgeblich bei. Als früherer CIA-Chef und später als stellvertretender Sicherheitsberater von Präsident Bush dem Älteren hatte er den Sieg im Kalten Krieg mit errungen. Als Verteidigungsminister von Bush dem Jüngeren führte Gates die US-Streitkräfte aus dem Debakel im Irak. Der neu gewählten Präsident Obama überredete damals Gates, im Amt zu bleiben. Eine Personalie, die viele überraschte und beeindruckte. Doch Mitte vergangenen Jahres wollte Gates endlich in den Ruhestand. In seiner Abschiedsrede an die Kadetten der Militärakademie in West Point am 25. Februar ließ er sich zu einer überdeutlichen Warnung hinreißen:

O-Ton Gates (overvoice)
„Meiner Meinung nach sollte jeder künftige Verteidigungsminister, der einem Präsidenten empfiehlt, noch einmal eine große amerikanische Landstreitmacht nach Asien, in den Mittleren Osten oder nach Afrika zu entsenden, sich ‚den Kopf untersuchen lassen‘, wie es General MacArthur so feinsinnig formulierte.“

Seine sehr persönlichen Gründe dafür ließ er zum Ende seiner Rede erkennen:

O-Ton Gates (overvoice)
„Wie einige von Ihnen mich bereits zuvor haben sagen hören, fühle ich mich für jeden von Ihnen persönlich verantwortlich, so als wären Sie meine eigenen Söhne oder Töchter, solange wie ich Verteidigungsminister bin.“

Gates hatte viele Kondolenzbriefe unterzeichnen müssen. Er war kriegsmüde. Deshalb mahnte der alte Haudegen Gates zur Zurückhaltung bei neuen Interventionen. Die Kriege im Irak und in Afghanistan hatten zu viel Kraft gekostet, die Nation, die Streitkräfte und ihn selbst. Für Gates war der Sieg im Kalten Krieg zu hart errungen, um die Weltmachtstellung der USA in verlustreichen Kriegen zu verspielen, in Ländern von fragwürdiger Bedeutung für die Vereinigten Staaten. Eine weitere Militärintervention in einem islamischen Land hielt Gates für unverantwortlich. Vor einer Flugverbotszone über Libyen hatte er eindringlich gewarnt. Sie erfordere eine Luftoffensive. Das bedeute Krieg. Nachdem er sich mit seinen Bedenken nicht durchsetzen konnte, legte er im März vergangenen Jahres vor dem Streitkräfteausschuss des Repräsentantenhauses noch einmal nach:

O-Ton Gates
„There will be no American boots on the ground in Libya.“

„Kein amerikanischer Soldat wird seine Stiefel auf libyschen Boden setzen.“ Dabei ist es geblieben. Sehr zügig hatten die USA das Kommando der Militäroperation der NATO übertragen, sich aus der ersten Reihe zurückgezogen und Franzosen und Briten die Bühne überlassen. Doch ohne den massiven Einsatz wichtiger militärischer Fähigkeiten der USA, wie Luftaufklärung, Luftbetankung und präzisionsgelenkter Bomben, wäre der Libyen-Feldzug nicht erfolgreich gewesen.

In einem Artikel für das Magazin THE NEW YORKER zeichnete der Journalist Ryan Lizza Anfang Mai nach, wie schwer sich die Regierung Obama mit einer Antwort auf den Arabischen Frühling getan hat. Wie gewohnt versuchte der Präsident zunächst einen sehr pragmatischen Kurs zu steuern. Tunesien, Ägypten und Libyen sollten nicht über einen Kamm geschoren werden. Vielmehr reagierten die USA differenziert, den jeweils unterschiedlichen Verhältnissen angemessen. Doch Obamas Ansatz wurde von westlichen Verbündeten und in der arabischen Welt als Unentschlossenheit interpretiert. Zudem gab es im Beraterkreis des Präsidenten zwei unterschiedliche Fraktionen. Beide drängten auf eine grundsätzlichere Haltung. Im Gegensatz zu Verteidigungsminister Gates sprach sich die UN-Botschafterin Susan Rice unterstützt von Samantha Powers, einer Mitarbeiterin im Nationalen Sicherheitsrat, aus humanitären Gründen für eine Intervention in Libyen aus. Gates Trauma war der Irak-Krieg. Das Trauma von Rice und Powers war der Völkermord in Ruanda 1994, dem die USA damals tatenlos zugesehen hatten. So geriet die Libyen-Intervention der USA zu einem Kompromiss zwischen beiden Lagern. Als Ergebnis eines quälenden Entscheidungsprozesses entschied sich Obama schließlich für ein Eingreifen aus humanitären Gründen – eine Intervention, die sich allerdings nur auf See- und Luftstreitkräfte stützte. Die Weltmacht selbst wollte dabei nicht im Vordergrund stehen, und steuerte die Militäraktion daher aus der zweiten Reihe. Der Journalist Ryan Lizza resümierte:

Zitat Lizza
„Obama könnte sich auf etwas hinbewegen, das wie eine Doktrin aussieht. Einer seiner Berater beschrieb das Handeln des Präsidenten als ‚aus dem Hintergrund führen‘- Leading from behind.“

Sofort stürzten sich die Medien auf das anonyme Zitat. Endlich war ein Etikett für die wechselhafte Außenpolitik Obamas gefunden. Begierig griffen seine Kritiker, wie etwa der einflussreiche Publizist und Kolumnist der WASHINGTON POST, Charles Krauthammer, die Formulierung auf, um sie gegen den Präsidenten zu wenden:

Zitat Krauthammer
„Um genau zu sein, ist Führen aus dem Hintergrund ein Führungsstil, keine Doktrin. Doktrinen beinhalten Ideen. Da aber keinerlei Ideen erkennbar sind, die Obamas Außenpolitik irgendeinen Sinn einzuhauchen vermögen, werden wir uns wohl damit zufrieden geben müssen. [...] Obamas Außenpolitik ist eine Politik des Zauderns, des Verschleppens und der Unentschlossenheit, die sich durch wehleidige Appelle an eine fiktive ‚internationale Gemeinschaft‘ auszeichnet, doch bitte das zu tun, wozu nur Amerika in der Lage ist. [...] Aus dem Hintergrund führen ist keine Führung, sondern Abdankung.“

Krauthammers Kritik fiel zwar besonders aggressiv und polemisch aus. Aber nicht nur der Publizist, sondern die Mehrheit der politischen Klasse der USA kann mit einem zurückhaltenden Führungsstil wenig anfangen. Kein Wunder, paraphrasierte der von dem Magazin THE NEW YORKER zitierte anonyme Obama-Berater doch den chinesischen Philosophen Laotse. Dem Begründer des Taoismus wird u.a. folgender Lehrsatz zugeschrieben:

Zitat Laotse
„Wer Menschen führen will, muss hinter ihnen gehen. Der beste Führer ist der, der nicht bemerkt wird.“

Die feindselige und negative Interpretation von „Leading from behind“ in den USA gefährdet allerdings die makellosen Referenzen des Präsidenten als Außenpolitiker, der Amerika sicherer gemacht hat. Dabei hatte sein stellvertretender Sicherheitsberater, Benjamin Rhodes, bereits durchblicken lassen, wie Obama im bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf punkten könnte - Zitat:

Zitat Rhodes
„Reagan hatte es auf Gaddafi abgesehen, Bush auf bin Laden. Obama hat sie beide zur Strecke gebracht.“

Doch Obama selbst reagierte auf den Begriff „Leading from behind“ ganz anders. Er wies das Etikett zurück, seine Politik aber verteidigte der US-Präsident:

O-Ton Obama (overvoice)
„Das ist eine Formulierung, auf die sich die Medien gestürzt haben. Ich habe sie niemals verwendet. Wir haben von vorn geführt. [...] Wir haben das internationale Engagement organisiert. Wir haben das UN-Mandat für die Operation erlangt. Wir haben die arabischen Länder zum Mitmachen bewegt. So gab es niemals die Idee, wir allein hätten die Entscheidung getroffen, jemanden zu beseitigen. Vielmehr war das die internationale Gemeinschaft. Und das ist einer der Gründe, warum uns die Sache nur eine Milliarde Dollar gekostet hat statt einer Billion Dollar. Kein US-Soldat hat seine Fuß auf libyschen Boden gesetzt. Nicht ein US-Soldat wurde getötet oder verwundet.“

Das Etikett „Obama-Doktrin“ behagt dem Präsidenten zwar nicht. Doch es geht um mehr als um Stilfragen. Die Weltmacht USA muss ihre Kräfte einteilen. Allianzen sind da zwar aufwändig, dafür aber kostengünstiger als Alleingänge. Geschichtsbewusste Beobachter bemühen die Analogie zur Außenpolitik der USA vor vierzig Jahren. Unter dem Eindruck der Niederlage in Vietnam, wirtschaftlicher Probleme daheim und der Krise des US-Dollars formulierte der damalige Präsident die sogenannte Nixon-Doktrin. Eine ihrer Schlussfolgerungen lautete, sich künftig stärker auf Verbündete und Stellvertretermächte abzustützen. Unter Präsident Obama scheint die Außen- und Sicherheitspolitik der USA zu diesem Ansatz zurückzukehren.

* Aus: NDR Info Das Forum, STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 14.01.2012; www.ndrinfo.de

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