Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der längste Krieg

Trotz der Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, einen schnellen Abzug aus dem Irak und einen zeitlich begrenzten Einsatz in Afghanistan durchsetzen zu wollen, ist ein Ende der Konflikte nicht in Sicht. Eine Geschichte der Eskalation

Von Philipp Schläger, New York *

Die Atmosphäre im Weißen Haus war angespannt. In Anwesenheit von Verteidigungsminister Robert Gates und dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der Streitkräfte, Admiral Michael Mullen, erklärte Präsident Obama, daß er »in hohem Maße unglücklich« mit dem Verhalten des Pentagon sei. Nur kurz zuvor hatte der damalige Oberkommandierende der Streitkräfte in Afghanistan, General Stanley McChrystal, seine Forderung nach mehr Truppen erneut öffentlich vor einer Gruppe von Journalisten vertreten. Obama war außer sich. Als »präsidialen Anschiß, wie es ihn seit über einem halben Jahrhundert in den Vereinigten Staaten nicht mehr gegeben hat«, beschreibt der Journalist Jonathan Alter in seinem Buch »The ­Promise« aufgrund von Quellen innerhalb des Weißen Hauses die Konfrontation im Herbst 2009. Die Indiskretionen seien »respektlos«, sagte Obama während des Treffens, das ein Mitarbeiter als »kalt und angespannt« beschrieb. Es war der Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen dem US-Präsidenten und dem Pentagon. Nur wenig später gab Obama nach und erteilte den Marschbefehl für weitere 30000 Mann nach Afghanistan.

Trotz der kontroversen Auseinandersetzungen innerhalb der Obama-Administration und der immer stärker werdenden Opposition der amerikanischen Öffentlichkeit (nach einer CNN-Umfrage von Anfang Oktober sprechen sich nunmehr 58 Prozent der Befragten gegen den Feldzug am Hindukusch aus) sind Irak und Afghanistan zur Kongreßwahl am 2. November kein Thema. Zu sehr dominieren Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit die Debatte.

Immer mehr Truppen

Dennoch bleibt der »Krieg gegen den Terror«, der derzeit rund 100000 US-amerikanische Soldaten am Hindukusch und immerhin noch 50000 im Irak bindet, Barack Obamas größte außenpolitische Herausforderung – und eine der großen Enttäuschungen für seine Anhänger.

Nach Angaben der Webseite icasualties.org haben allein in diesem Jahr 600 ausländische Soldaten – davon 400 aus den USA – in Afghanistan ihr Leben gelassen. Es ist nicht nur das blutigste Jahr für die ausländischen Besatzer seit Beginn des Krieges 2001. Afghanistan ist inzwischen auch der längste Konflikt in der Geschichte der Vereinigten Staaten: länger als der Zweite Weltkrieg und länger als Vietnam (103 Monate). Und der Präsident, der als Kandidat ein friedlicheres, multilaterales Amerika versprach, entschied sich für die Eskalation. Neben einer beispiellosen Ausweitung des Drohnenprogramms, mit dem die USA in zahlreichen Ländern Menschen liquidieren, in denen sie offiziell keinen Krieg führen, verdreifachte Obama die Truppen in Afghanistan.

Irak hatte Obama schon als Präsidentschaftskandidat als gefährliche Ablenkung bezeichnet. Bush habe Afghanistan zu sehr vernachlässigt. Alle Anstrengungen müßten sich auf die Jagd nach »Osama bin Laden, Al-Qaida, den Taliban und den Terroristen, die für die Anschläge verantwortlich waren«, konzentrieren. Noch während er über mehrere Monate hinweg im Herbst 2009 über eine endgültige, von ihm als »Af-Pak« bezeichnete Strategie für Afghanistan und Pakistan nachdachte, stieg die Zahl der US-Truppen auf seinen Befehl kontinuierlich. Zu seinem Amtsantritt waren 34400 US-Soldaten in Afghanistan stationiert. Schon im Februar gab er seinen ersten Marschbefehl nach Afghanistan für 17000 weitere. Tausende mehr folgten. Bis November wuchs die Truppenstärke auf 68000. Damit waren noch vor der mit Spannung erwarteten Entscheidung Obamas über das weitere Vorgehen in Afghanistan fast doppelt so viele US-Soldaten dort stationiert wie zum Ende der Bush-Administration. In einer Rede im August 2009 bezeichnete er den Afghanistan-Krieg als »unumgänglich«.

Vizepräsident Biden reagierte verärgert. Nur der Krieg gegen Al-Qaida sei unumgänglich, sagte Biden, und diese befinde sich nicht in Afghanistan, sondern in Pakistan. Doch Obama wollte eine Machtübernahme der Taliban verhindern, da sie auch Al-Qaida ein sicheres Rückzugsgebiet böten, so seine Annahme. Eine bedeutende Weichenstellung für die neue Strategie leitete Robert Gates ein. Nachdem deutlich wurde, daß das Konzept der USA in Afghanistan nach acht Kriegsjahren nicht aufgegangen war, entließ der Verteidigungsminister im Mai 2009 den Oberbefehlshaber der US-Truppen in Afghanistan, General David McKiernan. Die ­Obama-Administration wollte die im Irak erprobte und von General David Petraeus entwickelte »Counterinsurgency«-Strategie (COIN) auch im Kampf gegen die Aufständischen in Afghanistan anwenden. Mullen, der schon in der Bush-Administration den Posten innehatte, schlug Obama daher seinen Protegé Stanley McChrystal als Nachfolger vor. Obama war einverstanden.

McChrystals Ernennung war wegweisend. Bald schon drängten er und Verteidigungsminister Gates auf eine neue Einschätzung der Lage noch vor der Wahl in Afghanistan. Barack Obama gab schließlich grünes Licht für einen Bericht und erlaubte auch »Empfehlungen« des Generals – ein Fehler, wie sich bald herausstellen sollte. Obama selbst bezeichnete die vage Aufgabenstellung als »töricht«, da sie die Schleuse für den Druck des Pentagon öffnete. Der Präsident käme unter Rechtfertigungsdruck, wenn er den Empfehlungen des von ihm selbst ernannten Oberkommandierenden nicht folgen würde. Und McChrystal nutzte die Gelegenheit. Ende August schickte er seinen Bericht an Gates und schilderte die »ernste und zunehmend schlechter werdende Lage«, die Korruption des Karsai-Regimes und warnte schließlich vor dem Scheitern der Mission, falls nicht deutlich mehr Truppen entsandt würden. Seine »Empfehlung«: mindestens 40000, idealerweise 80000 Soldaten und ein Zeitfenster von rund zehn Jahren für den Aufbau staatlicher Strukturen. Dieser Plan würde eine Billion Dollar zusätzlich kosten. Allein von 2001 bis 2010 hatten die USA soviel für die Kriege in Afghanistan und im Irak ausgegeben. Eine hohe Rechnung für ein Land, in dem sich nach Aussage von CIA-Chef Leon Panetta »höchstens 50 bis 100 und vielleicht weniger« Al-Qaida-Kämpfer aufhalten.

Obama erhielt den Bericht McChrystals Anfang September vergangenen Jahres. Während der Einsatz praktisch von selbst wuchs (alleine bis zu seiner Entscheidung im Dezember verdoppelte Obama die Zahl der Truppen), suchte er nach einer umfassenden Strategie für die Region. In der längsten präsidialen Prüfung seit der Kubakrise verwarf er in Beratungen vom September bis November 2009 zahlreiche Vorschläge des Pentagon. Er diskutierte die Empfehlungen McChrystals und forderte alle Beteiligten auf, Alternativen auszuarbeiten. Eine der wenigen kritischen Stimmen bei den Beratungen war Vizepräsident Joe Biden. Er setzte sich schon im März für einen abgespeckten Einsatz mit Spezialeinheiten und Drohnen ein, der sich auf Al-Qaida konzentrieren sollte. Gleichzeitig warnte er Obama vor Versuchen des Pentagon, mehr Truppen zu bekommen. Mehr Militär, so Biden, biete lediglich Al-Qaida und den Taliban eine größere Angriffsfläche. Seine Einwände machten ihn zu einem bevorzugten Ziel des Pentagon, das versuchte, Biden zu diskreditieren. Die Militärs und mit ihnen auch Außenministerin Clinton vertraten die Position, daß zunächst mehr Truppen nötig seien, um die Lage zu stabilisieren und eine politische Lösung zu ermöglichen.

Die regelmäßigen Beratungen im Weißen Haus glichen nach Angaben von Mitarbeitern einem Seminar mit bohrenden Fragen von »Professor Obama« an seine Militärs. Dies war schon ein großer Unterschied zu George W. Bush, der in der Regel Anfragen des Pentagon im Vertrauen auf seine Generäle ohne kritische Nachfragen absegnete. Auf viele Fragen Obamas hatten die Militärs allerdings keine Antworten. Als er beispielsweise wissen wollte, wie hoch die Kosten der vorgeschlagenen Einsatzpläne seien, stieß er beim Pentagon auf Ratlosigkeit. Fassungslos zog der Präsident von nun an den Budgetdirektor des Weißen Hauses, Peter Orszag, zu den Beratungen hinzu. Wie sich bald herausstellen sollte, hatte Obama allen Grund, seinen Militärs zu mißtrauen.

Pentagon gegen Präsident

Die Spannungen begannen schon im Sommer 2009. Bei einem Besuch der Truppen in Afghanistan beantwortete der Nationale Sicherheitsberater James Jones Forderungen der Kommandeure nach noch mehr Soldaten ablehnend. Es sei inzwischen klar, daß eine ausschließlich militärische Lösung in Afghanistan gescheitert sei, erklärte er. Statt weiterer Truppen brauche Afghanistan Wiederaufbau und eine bessere wirtschaftliche Entwicklung. Zudem erinnerte er die Kommandeure an die Versprechen des Pentagon, wonach die bis dahin entsandten Truppen für eine Trendwende ausreichen würden. Die Forderung nach noch mehr Truppen werde beim Präsidenten einen »Whisky-Tango-Foxtrott«-Moment (»What the fuck?«) auslösen, zitierte Bob Woodward einem ehemaligen NATO-Kommandeur in der Washington Post. Das Pentagon war nicht begeistert und reagierte. Schon während der Beratungen hatte das Verteidigungsministerium systematisch Informationen an Journalisten durchsickern lassen. Eine Tatsache, die Obama nicht gerade erfreute.

Und er machte kein Geheimnis daraus.

Doch die Indiskretionen gingen weiter. Barack Obama hoffte angesichts der sich verschlechternden Lage auf die Präsidentschaftswahl in Afghanistan. Vieles hing nach seinen Plänen von einem stabilen Partner vor Ort ab. Doch die Wahl wurde ein Debakel. Hamid Karsais »Verbrechersyndikat« (so US-General David Petraeus) stahl rund eine Million Stimmen, um sich den Sieg zu sichern. »Schlimmer hätte es nicht sein können«, beschrieb ein Berater Obamas den Wahlausgang. Dies sei »Betrug, sogar nach dem Standard von Illinois«. Eine Stichwahl mußte nach dem Rückzug von Karsais einzigem Gegenkandidaten abgesagt werden. Die älteren Mitarbeiter im Weißen Haus erinnerte die Episode an das korrupte Marionettenregime in Südvietnam. Hinzu kamen weitere Enthüllungen. Als der Watergate-Reporter Bob Woodward im September 2009 einen Artikel über den geheimen Bericht McChrystals und dessen Schlußfolgerung einer Truppenaufstockung oder einer Niederlage in der Washington Post veröffentlichte, stieg der Frust im Weißen Haus.

Im Oktober hielt McChrystal schließlich eine Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London, in der er erneut mehr Soldaten forderte. Auf die Frage eines Reporters, ob er auch einem verkleinerten Einsatzplan Folge leisten würde, der sich auf Todesschwadronen und Drohneneinsätze gegen Al-Qaida konzentrieren würde (der Biden-Plan), sagte der General: »Die kurze Antwort ist: Nein.« Damit war ein neuer Tiefpunkt erreicht. Obwohl die Beratungen im Weißen Haus noch nicht abgeschlossen waren, bekannte McChrystal öffentlich, einem durchaus möglichen Befehl des US-Präsidenten nicht gehorchen zu wollen. Doch es ging noch weiter. Die Anwendung dieser Antiterrorismus- statt der Antiaufstandsstrategie führe zu »Chaos-istan«, erklärte McChrystal. Damit bezog er sich auf einen geheimen CIA-Bericht, nach dem ein bestimmtes Niveau an Chaos im Land nur noch von außen gemanagt werden könne. Statt dessen sprach er sich für mindestens 45000 Soldaten mehr aus.

Was folgte, war die eingangs beschriebene Standpauke Obamas. Der US-Präsident wollte von Gates und Mullen »hier und jetzt« wissen, ob das Pentagon bereit sei, jede von ihm beschlossene Strategie zu unterstützen. Gates und Mullen versicherten ihm daraufhin ihre Loyalität. In seinem kürzlich erschienenen Buch bestätigte auch der Journalist und Autor Bob Woodward Details der hitzigen Diskussionen im Weißen Haus.

Dennoch entschloß sich Obama nun, die Forderung McChrystals nach mehr Soldaten zu erfüllen. Im Dezember 2009 ordnete der US-Präsident die weitere Erhöhung des Kontingents um 30000 Soldaten an.

Er wollte eine schnelle Aufstockung und einen schnellen Abzug. Nach dem Plan sollten die Truppen schon ab Mitte 2010 in Afghanistan stationiert sein. Ab Juli 2011 sollte der Abzug beginnen. Wenn das Militär die Situation bis dahin nicht in den Griff bekommen habe, sei dies ohnehin ein Indiz für die Ausweglosigkeit der Lage und somit ein weiteres Argument für einen Abzug, argumentierte Obama. Aber auch das Pentagon wollte einen Rettungsanker – und bekam ihn. Gates und Mullen setzten eine Klausel durch, derzufolge der Abzug nach Plan laufen soll, »soweit es die Bedingungen vor Ort« zulassen.

Mit den zusätzlichen Kräften werden den 100 Al-Qaida-Mitgliedern schon bald allein 100000 US-Soldaten gegenüberstehen, eine ganz neue Dimension asymmetrischer Kriegsführung. Darin sind die rund 50000 Soldaten anderer NATO-Staaten der International Security Assistance Force (ISAF) noch nicht enthalten.

Vorbild Irak

Ein Testfall für die neue Counterinsurgency-Strategie war Marja im Westen der Provinz Helmand. Die Kleinstadt sollte ein Modell für die Zukunft Afghanistans werden. Die Taliban würden vertrieben und eine neue, populäre Stadtregierung eingesetzt. Die Operation sollte als Exempel für eine noch größere Offensive in Kandahar dienen, die derzeit anläuft. Die Stadt gilt als die Hochburg der Taliban, die 1994 von dort aus das ganze Land unter ihre Gewalt brachten. Doch Marja erwies sich als Fehlschlag. Während die militärische Eroberung des kleinen Ortes im Februar angesichts der Übermacht der US-Truppen wie zu erwarten kein Problem darstellte, gelang es ihnen nicht, die Gegend zu sichern. Anstelle der Stadtregierung behielten die Taliban die Kontrolle, und unzählige Menschen flohen vor den Kämpfen.

»Die Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert«, sagte Henry Kissinger einmal, »die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.« Diesem Zitat zufolge haben die Taliban die Schlacht um Marja und um Afghanistan längst für sich entschieden. Daß der Krieg jedenfalls für die USA nicht mehr zu gewinnen ist, ist inzwischen offenbar auch in Washington angekommen. Der einzige Ausweg scheint aus ihrer Sicht nun ein Friedensschluß unter Beteiligung der Taliban zu sein. In seiner Rede zur Truppenaufstockung in West Point im Dezember 2009 hatte Obama diese Strategie angedeutet. Er unterstütze Bemühungen Kabuls, solche Taliban einzubeziehen, »die der Gewalt abschwören und die Menschenrechte ihrer Mitbürger respektieren« würden. Es war eine erstaunliche rhetorische Dehnübung, die ehemaligen brutalen Machthaber Afghanistans in einem Satz mit Menschenrechten zu nennen. Doch den Worten folgten Taten. Erst kürzlich berichtete die New York Times, daß die USA führenden Taliban den Zugang zu Friedensverhandlungen mit der Karsai-Regierung sichern würden. Die zunehmenden Drohnenangriffe des US-Militärs in Afghanistan sollen auch den Druck auf die Taliban zur Aufnahme von Friedensverhandlungen erhöhen.

Als Beispiel dient dem US-Militär der nach allgemeinem Verständnis gelungene »Surge«, die rapide Truppenaufstockung 2007 im Irak. Dort kam der Seitenwechsel des sunnitischen Widerstands hinzu, den die Amerikaner in lokale Milizen eingliederte, eine Entwicklung, die wesentlich zu einer Abnahme der Kampfhandlungen im Irak beitrug. Noch im August feierte Obama die vermeintlich stabilere Lage mit einem öffentlichkeitswirksamen Abzug der letzten US-Kampfeinheiten. Dennoch verbleiben rund 50000 Soldaten aus den Vereinigten Staaten an Euphrat und Tigris, und sollen sich offiziell dem Training und der »Unterstützung« der irakischen Truppen widmen. Aufgrund der politischen Instabilität, die nach den Parlamentswahlen im März noch zugenommen hat und der mangelnden Integration der sunnitischen Milizen in die irakische Armee haben sich mittlerweile wieder Hunderte Sunniten auf die Seite von Aufständischen und »Al-Qaida in Mesopotamien« geschlagen, berichtete die New York Times in der vergangenen Woche. Tausende hälfen zudem unter dem Deckmantel der Milizen den Aufständischen. Welche Folgen dieser Krieg für die Zivilbevölkerung hat, zeigten dieser Tage die 400000 auf der Internetplattform Wikileaks veröffentlichten Dokumente. Ihnen zufolge seien nach Beginn der Invasion bis Ende 2009 insgesamt 109000 Zivilisten ums Leben gekommen. Das US-Zentralkommando hatte jüngst, ohne weiter darauf hinzuweisen, seine Einschätzung der Zahl ziviler Opfer im Internet veröffentlicht. Danach sollen zwischen 2004 bis Mitte 2008 immerhin 77000 Iraker ums Leben gekommen sein. Die Wikileaks-Papiere dokumentieren zudem den brutalen Mißbrauch und die Folter von irakischen Häftlingen durch irakische Polizisten und Soldaten. Die Amerikaner ließen sie in der Regel gewähren.

Ausweitung des Drohnenkrieges

Viele Zivilisten fallen vor allem in Afghanistan und Pakistan auch den Präzisionsschlägen von ferngesteuerten Drohnen zum Opfer. Obamas Hightech-Krieg kostete nach unterschiedlichen Schätzungen im vergangenen Jahr rund 300 bis 500 Unbeteiligten das Leben. Dennoch war die Entscheidung Obamas für das Programm nicht von Kontroversen begleitet. »Die CIA bekommt, was sie braucht, « erklärte er bei seiner Amtseinführung. Und schon nach zwei Tagen im Amt gab er mehrere Angriffe mit Drohnen frei. Es war der Auftakt für eine großangelegte Kampagne. Man wolle mit dem »Skalpell anstatt mit dem Hammer« vorgehen, erklärte der oberste Antiterrorismusberater im Weißen Haus, John Brennan, diesen »chirurgischen« Ansatz. Im ersten Jahr unter Obama gab es mehr tödliche Drohneneinsätze als in den gesamten acht Jahren der Bush-Administration. Auch wenn sich die Berichte mehren, bleiben die Umstände des Drohnenkrieges der CIA geheim. Es ist weder bekannt, auf welche Regionen sich die Attacken der sogenannten Reaper- und Predator-Drohnen erstrecken, noch welche Menschen auf der Abschußliste stehen oder welche Erkenntnisse und Voraussetzungen für einen Angriff vorliegen müssen. Längst etwa sind nicht mehr nur Führungspersonen im Visier der virtuellen Piloten mit Joysticks und Flachbildschirmen in Langley, Virginia. »Inzwischen schmeißen wir Bomben auf kleine Handlanger, die nicht unbedingt eine Hellfire-Rakete im Arsch verdienen«, zitierte die Zeitung Lettre den ehemaligen Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates Roger Cressey. Die neue Kriegsführung verwischt zunehmend auch die traditionelle Aufgabenteilung der amerikanischen Streitkräfte, privaten Sicherheitsfirmen und Geheimdiensten. Während der Geheimdienst CIA überall auf der Welt gezielt Menschen tötet sowie Söldnertruppen unterhält und damit verstärkt paramilitärische Aufgaben übernimmt, ist die US-Armee zunehmend in der Spionage aktiv, etwa um die eigenen Drohnen verläßlich zu steuern und Ziele ausfindig zu machen. Woodward berichtete in seinem Buch auch von einer rund 3000 Mann starken Söldnerarmee der CIA in Afghanistan. In ihr dienen Afghanen, die Jagd auf die Taliban machen, so der Journalist. Die Drohnen des Geheimdienstes kommen dagegen vor allem in Pakistan zum Einsatz, dessen Regierung den Eingriff in die eigene Souveränität duldet und dafür bei der Auswahl der Ziele mitentscheidet. Nach einem in der vergangenen Woche verkündeten Abkommen haben die USA ihren Verbündeten in Islamabad auch ab 2012 Hilfen in Höhe von rund zwei Milliarden Dollar jährlich zugesagt.

Im Dezember will der US-Präsident eine erneute Prüfung der Lage vornehmen. Wirklich klar wird sein Standpunkt wahrscheinlich erst im Frühjahr 2011 sein, in einer Zeit, in der die Kämpfe normalerweise wieder besonders heftig geführt werden. Es bleibt offen, ob sich Obama dabei erneut dem Druck des Militärs beugen und wegen der »Bedingungen vor Ort« den schnellen Abzug absagen wird. Der Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes im kommenden Jahr läßt jedenfalls nichts Gutes erwarten.

Trotz der öffentlich propagierten Siegesgewißheit befand General Petraeus im persönlichen Gespräch: »Ich denke nicht, daß man diesen Krieg gewinnen kann. Man kämpft weiter ... Das ist ein Kampf, den wir den Rest unseres Lebens führen werden und wahrscheinlich auch den Rest des Lebens unserer Kinder.«

Vom jW-Korrespondenten Philipp Schläger erschien kürzlich:
Der entzauberte Präsident – Barack Obama und seine Politik, Rotbuch Verlag, Berlin 2010, 192 Seiten, 9, 90 Euro.

* Aus: junge Welt, 29. Oktober 2010



Zurück zur USA-Seite

Zur Afghanistan-Seite

Zur Irak-Seite

Zurück zur Homepage