Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Terroristenjagd in Vorstadtidylle

Mögliche Boston-Attentäter identifiziert / Ein Beamter und ein Verdächtiger tot

Von John Dyer, Boston *

Caren Irr wollte am Freitagmorgen nur ihre Tochter zur Schule bringen und dann zur Arbeit in die Brandeis University weiterfahren. Stattdessen geriet sie in eine polizeiliche Verfolgungsjagd, die die Aufmerksamkeit der USA und der ganzen Welt auf ihre Heimatstadt Cambridge in Massachusetts richtete. Die Verbrecherjagd lief schon die ganze Nacht, aber Caren hatte nichts davon mitbekommen, hatte die Schüsse und Explosionen nicht gehört, das Feuergefecht zwischen Polizisten und den beiden als Bombenleger verdächtigten jungen Männern, die Detonation der selbst gefertigten Sprengsätze, mit denen sie sich die Beamten vom Leibe halten wollten.

»Wir gehen früh zu Bett und haben deshalb nichts gehört«, sagt Caren Irr. Alles spiele sich wohl rund um den Kendall-Platz ab, an dem die weltberühmte Eliteuniversität Massachusetts Institute of Technology (MIT) liegt. Sie hatte recht, denn dort hatten die beiden Verdächtigen einen Laden überfallen und einen herbeieilenden Sicherheitsagenten des MIT erschossen. Dann stahlen sie ein Auto. Die Polizei jagte sie fünf Kilometer weit bis in einen Vorort von Boston. Einer der Täter war angeschossen worden. Er starb im Krankenhaus.

Die Polizei wies Irr und 250 000 weitere Bürger von Cambridge und Boston an, während der Suche nach dem flüchtigen 19-jährigen Dshochar Zarnajew zu Hause zu bleiben und die Türen verschlossen zu halten. Dieselbe Warnung wurde für die Vororte Arlington, Belmont, Brookline, Newton, Waltham und Watertown ausgegeben. Der aus Russland eingewanderte Tsarnaev lebt offenbar seit sieben Jahren in den USA.

Polizeichef Ed Davis nannte die Lage am Freitag ernst. »Wir sind dazu da, die Öffentlichkeit zu schützen, und wir glauben, dass dieser Mann ein Terrorist ist, dass er hergekommen ist, um Menschen zu töten.«

Die Vorortzüge und die U-Bahn von Boston wurden in der Region der Polizeifahndung gestoppt. Busse fielen aus. Hunderttausende blieben zuhause, weil die Universitäten, die größten Arbeitgeber in Boston und Umgebung, den ganzen Freitag geschlossen blieben. Auch die Taxis blieben in den Garagen und die Ladenbesitzer wurden aufgefordert, ihre Geschäfte geschlossen zu halten.

Die Feuergefechte spielten sich am Donnerstagabend und in den frühen Morgenstunden des Freitags in Watertown bei Cambridge ab. Die beiden Terrorverdächtigen waren offenbar nach dem Überfall auf den kleinen Laden auf eine Verfolgungsjagd eingerichtet. Sie warfen selbst gebaute Handgranaten auf die Polizisten.

Am Freitagmorgen sammelte die Polizei mehrere Einsatzgruppen vor einem Apartmenthaus in der Quimby Street, Ecke Willow Park in Watertown. In dieser Gegend leben besonders viele Zuwanderer aus Armenien und anderen osteuropäischen Staaten. Trotz der Gefahr waren Neugierige am Willow-Park. Am Donnerstag hatten die Behörden Fahndungsfotos und Videos der beiden Verdächtigen veröffentlicht. Darauf meldeten sich Zehntausende mit Hinweisen.

Jeff Bauman (27) war den Boston Marathon mitgelaufen. Eine der beiden Explosionen im Zielraum riss ihm die Unterschenkel an beiden Beinen unterhalb der Knie weg. Im Krankenhaus wurde er operiert. Kaum aus der Narkose erwacht, wollte er die Polizei sprechen. Später gab er seine Aussage zu Protokoll, identifizierte die Verdächtigen auf Fotos.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 20. April 2013


Mutmaßlicher Boston-Attentäter schwer verletzt gefasst

Obama lobt Einsatzkräfte und spricht von »bösartiger Attacke« / Anwohner lieferte der Polizei den entscheidenden Hinweis **

Nach einer dramatischen Großfahndung hat die US-Polizei den mutmaßlichen zweiten Bombenattentäter von Boston gefasst. Die Einsatzkräfte nahmen den schwer verletzten Dschochar Zarnajew am Freitagabend (Ortszeit) im Vorort Watertown in Gewahrsam. Sein Bruder und mutmaßlicher Komplize Tamerlan Zarnajew war zuvor auf der Flucht ums Leben gekommen.

"Wir sind so dankbar, in diesem Fall für Gerechtigkeit gesorgt zu haben", sagte der Polizeichef von Massachusetts, Timothy Alben. Nach Polizeiangaben hatte sich der 19-jährige Dschochar in einem Boot im Garten eines Hauses verschanzt, nachdem er offenbar in der Nacht zuvor bei einer Schießerei mit der Polizei verwundet worden war. Der 26-jährige Tamerlan war nach dem Schusswechsel in einem Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen.

Die beiden aus einer tschetschenischen Familie stammenden Männer sollen am Montag einen Anschlag auf den Bostoner Marathon verübt haben. Im Zielbereich der Laufstrecke waren binnen weniger Sekunden zwei Bomben detoniert, die drei Menschen töteten und etwa 180 weitere verletzten.

Die Suche nach Dschochar Zarnajew hatte sich seit dem späten Donnerstagabend auf Watertown konzentriert. Nachdem die Polizei das Gebiet stundenlang ohne Ergebnis durchkämmt hatte, wurde die für Boston geltende Ausgangssperre am späten Freitagnachmittag wieder aufgehoben.

Doch dann überschlugen sich die Ereignisse: In Watertown waren Schüsse zu hören, Krankenwagen eilten heran, Hubschrauber kreisten über der Gegend. Die Ermittler kamen dem Versteck nach eigenen Angaben durch den Hinweis eines Anwohners auf die Spur, der Blutspuren an dem Boot bemerkt hatte. Fast zwei Stunden bemühten sich die Beamten, Dschochar Zarnajew zur Aufgabe zu bewegen - dann griffen sie zu. "GEFASST!!! Die Jagd ist vorbei. Der Terror ist vorbei", schrieb die Bostoner Polizei im Online-Kurzbotschaftendienst Twitter. Der Verdächtige wurde ins Krankenhaus gebracht, sein Zustand war laut Polizei "ernst".

Mit der Festnahme endete eine mehr als 24-stündige Großfahndung, die Boston zwischenzeitlich in eine Geisterstadt verwandelte und die Menschen in den USA in Atem hielt. Die Bundespolizei FBI war am Donnerstag mit Fahndungsbildern an die Öffentlichkeit gegangen, auf denen zwei verdächtige junge Männer mit Rucksäcken in der Nähe des Anschlagsorts zu sehen waren.

Auf ihrer Flucht versuchten die beiden mutmaßlichen Bombenleger in der Nacht zum Freitag, im nahe Boston gelegenen Cambridge ein Geschäft auszurauben. Dann fuhren sie nach Polizeiangaben zum ebenfalls in Cambridge gelegenen Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo ein Polizist durch Schüsse verletzt wurde und schließlich starb.

Anschließend überfiel das Duo offenbar den Fahrer eines Wagens und flüchtete mit der Geisel, die später entkommen konnte. Eine Verfolgungsjagd mit der Polizei in Watertown endete mit einem wilden Schusswechsel, US-Medien zufolge warfen die Brüder auch Sprengsätze aus dem Auto. Tamerlan Zarnajew wurde den Angaben zufolge dabei verletzt. Der Mann sei an mehreren Schusswunden und den Folgen einer Explosion schließlich gestorben, sagte ein Arzt aus der Klinik, in die der Verdächtige eingeliefert worden war. Sein jüngerer Bruder konnte der Polizei zunächst entkommen.

US-Präsident Barack Obama lobte "Professionalität und Mut" der Ermittler. Außerdem pries er die Einwohner von Boston, die mit "Entschlossenheit" auf die "bösartige Attacke" reagiert hätten. Obama versprach, die Hintergründe der Tat vollständig aufzuklären. Laut "Boston Globe" verhörte das FBI drei Verdächtige im Zusammenhang mit dem Anschlag. Eine Wohnung in der Nähe der Universität, an der Dschochar Zarnajew eingeschrieben war, sei dabei durchsucht worden.

* Aus: neues deutschland (online), Samstag, 20. April 2013


Zurück zur USA-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zurück zur Homepage