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"Die US-Soldaten im Irak sind gegen den Krieg eingestellt"

Gespräch mit Kelly Campbell. Über die Friedensbewegung in den USA, den Soldatenwiderstand in der "Freiwilligenarmee" und die notwendige Unterstützung der Kriegsgegner in Uniform



Die 35jährige Kelly Campbell ist Mitglied im Bundesvorstand von "United for Peace and Justice", des größten Friedensbündnisses der USA. Bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York vor sechs Jahren verlor sie ihren Schwager. Sie gehört zu den Gründerinnen der Organisation »Familien des 11. September für eine friedliche Zukunft«. Mitglieder dieser Gruppe reisten 2002 nach Afghanistan.
Kelly Campbell sprach am 15. September 2007 auf der Afghanistan-Kundgebung in Berlin (siehe: "Afghanistan ist ein lebendiges Museum ...").
Das im Folgenden wiedergegebene Interview wurde in der "jungen Welt" veröffentlicht.

Frage: Wie sind Sie zur Friedensbewegung in den USA gekommen, und wie sieht deren aktuelle Entwicklung aus?

Campbell: Ausgangspunkt waren für mich die Anschläge des 11. September 2001. Seit Herbst jenes Jahres arbeite ich mit einer Gruppe namens »Eleventh of September Families for Peaceful Tomorrows« (Familien des 11.September für eine friedliche Zukunft) zusammen. Bei der Gründung unserer Gruppe sind wir von den traditionellen pazifistischen Organisationen wie dem »American Friends Service Committee« aus dem religiös-pazifistischen Umfeld der Quäker und den Kriegsgegnern der »War Resisters League« unterstützt worden. Zu dieser Zeit konnte von einer starken, koordinierten Friedensbewegung in den USA allerdings keine Rede sein. Neue Gruppen, die sich zum Beispiel mit nuklearer Aufrüstung beschäftigten, haben zwar mitgeholfen, nur wußten sie unmittelbar nach den Anschlägen nicht genau, wie an die Frage des Friedens herangegangen werden kann. Gleichzeitig sind nach dem 11.09. im ganzen Land sehr viele Vereinigungen und Initiativen auf lokaler Ebene entstanden, wie die zahlreichen »Neighbourhood Committees for Peace« (Stadtteilausschüsse für Frieden). Unsere Gruppe wurde quer durchs Land von diesen lokalen Initiativen eingeladen. So haben wir Verbindungen hergestellt und ermöglicht, die vorher nicht vorhanden waren. Leute in Texas wußten bis zu dem Zeitpunkt nicht, daß es in Connecticut Gruppen mit ähnlichen Schwerpunkten gab. So ist mit der Zeit ein überregionaler Verbund der lokalen Initiativen entstanden.

Also eine Art Netzwerk, um die diversen regionalen und lokalen Aktivitäten zu bündeln?

Richtig, denn den Aktiven wurde sehr schnell klar, daß wir so etwas wie ein Netzwerk brauchen, um unsere Vorgehensweise und unsere Strategie abzustimmen und die Zusammenarbeit zu koordinieren. Zum ersten Jahrestag der Anschläge haben wir zusammen mit der US-Menschenrechtsgruppe »Global Exchange« einen Besuch bei den Opfern der US-Bombardements in Afghanistan organisiert. Andere Initiativen haben zu Friedensdemonstrationen und -kundgebungen aufgerufen. Auf der Internet­seite Unitedforpeace.org konnten sich Interessierte eintragen, um ihren Protest kundzutun und sich an den verschiedenen Aktionen in den USA zu beteiligen. Aus diesen Zusammenhängen ist die Friedenskoordination »United for Peace and Justice« (UFPJ – Gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit) entstanden, die mittlerweile aus 1400 verschiedenen Mitgliedsorganisationen und Initiativen besteht. Bei solch einer Bandbreite ist natürlich nicht immer alles perfekt. Zu den positiven Aspekten gehört jedoch sicherlich, daß nun eine landesweite Zusammenarbeit und Koordination garantiert ist. Insbesondere Leute aus den am härtesten betroffenen Gemeinden stellen eine treibende Kraft dar.

Sie meinen damit Aktivitäten in den riesigen Garnisonsstädten der USA?

Genau. Zu den Aktiven dort gehören vor allem die Angehörigeninitiativen von Soldatinnen und Soldaten, die »Military Familes Speak out«, die sich noch vor dem Irak-Krieg gebildet haben, die Kriegsveteranen »Iraq Veterans Against the War« und die schon lange existierenden »Veterans for Peace«. Unsere Gruppe »Eleventh of September Families for Peaceful Tomorrows« arbeitet darüber hinaus mit zahlreichen Frauengruppen zusammen. Die Strukturen von »United for Peace and Justice« sind aus dieser Entwicklung heraus breit, offen und demokratisch. Die gewählte Leitungsebene setzt sich zur Hälfte aus Farbigen zusammen, 50 Prozent sind Frauen, 25 Prozent repräsentieren Homosexuelle und 25 Prozent der Aktiven im Vorstand sind aus dem Jugendbereich.

Sind Vergleiche mit dem Vietnamkrieg angebracht, als der Widerstand der Soldaten zum Ende des Kriegs beigetragen hat? Die Wehrpflicht wurde damals abgeschafft ...

Die Abschaffung der Wehrpflicht in den USA hat zunächst einmal das Antikriegsengagement der Studierenden verändert. Junge Leute fühlen sich also nicht notwendigerweise direkt betroffen. Trotzdem kann man die Rekrutierungspraxis heute als eine Wehrpflicht für Arme oder als soziale Wehrpflicht bezeichnen. Viele Menschen, die sich bei den Streitkräften verpflichten, tun es einzig und allein aus wirtschaftlichen Erwägungen. Zudem herrscht die Ansicht vor, daß die Streitkräfte schulische Ausbildung, Gesundheitsversorgung und rege Reisetätigkeiten garantieren ...

... und sichere Arbeitsplätze ...

Und natürlich auch Arbeitsplätze und Berufsausbildung. Genau mit diesen Lügen und Übertreibungen versuchen die Rekrutierungswerber, die jungen Leute zu ködern. Jedoch sollte auch der psychologische Effekt nicht unterschätzt werden. Den Jugendlichen wird suggeriert, daß sie bei den Streitkräften an einer großartigen Sache beteiligt sind, die weit über das hinaus geht, was ein einzelner Mensch erreichen kann. Insbesondere für Kids, die in der Schule schlecht abgeschnitten haben, oder bei Jugendlichen aus Familien, die kein Geld für die College-Ausbildung haben, spielt die Op­tion, zum Militär zu gehen, eine wichtige Rolle. Bei einigen überwiegt vielleicht auch der Gedanke, dem eigenen Leben mit dem Erlernen militärischer Disziplin eine entscheidende Wende zu geben. Am Ende sind die jungen Leute – auch diejenigen, die vor dem 11.09. rekrutiert wurden – dann konfrontiert mit einer beständigen Verlängerung ihrer Dienstzeit. Dafür hat das US-Militär das berüchtigte Stop-Loss-Programm eingeführt.

Übersetzt bedeutet das »Verluste vermeiden«, aber was ist damit wirklich gemeint?

Es geht um einen Entlassungsstop. Hier sind wir im Bereich des Kleingedruckten der jeweiligen Dienstverpflichtung. Im Grunde genommen können die Streitkräfte ihre Soldaten und Soldatinnen solange verpflichten, wie es der Militärapparat will. Nach dem Ablauf einer sechs- oder achtjährigen Dienstzeit müssen die ausgeschiedenen Militärangehörigen den Streitkräften für erneute Einberufungen immer noch zur Verfügung stehen. Ob das nun wirklich gesetzeskonform ist, wird derzeit heftig diskutiert. Die Verpflichtung früherer Nationalgardisten für den Militärdienst im Irak ist derzeit gängige Praxis. Nach dem Gesetz können sie im Inland jederzeit zur Bekämpfung von Waldbränden oder Hochwasserkatastrophen eingesetzt werden, aber nun sind sie monatelang von ihren Familien und Jobs in den USA getrennt.

Da drängt sich der Verdacht auf, daß den Militärstrategen der Bush-Regierung die personellen Reserven für die Kriegsführung ausgehen?

Diejenigen, die jetzt im Militär sind, werden fortwährend wieder einberufen. Das ist der große Unterschied gegenüber der Wehrpflicht während des Vietnamkrieges. Viele derjenigen, die damals in Indochina waren, sind zurückgekommen, haben über die Greuel des Krieges berichtet und sich dem Protest angeschlossen. Heute kommen die Militärangehörigen aus dem Irak zurück, sind nach wie vor im aktiven Dienst und können jederzeit wieder mobilisiert werden. Dieses Verfahren beeinflußt massiv die Einstellung der Soldaten. Was geschieht, wenn sie sich auf die Seite des Protestes schlagen? Werden sie dann noch schneller wieder ins Ausland geschickt? Oder wird das absehbare Ende der Dienstverpflichtung im Irak einfach verzögert? Zur Entscheidung, sich dem Protest anzuschließen oder von der Fahne zu gehen, gehören reifliche Überlegungen. Wer Kinder hat und für Familienangehörige sorgen muß, ist bestimmt von wirtschaftlichen Erwägungen geleitet. In der sogenannten Freiwilligenarmee gibt es sehr viele Soldatinnen und Soldaten, die in dieser Falle oder Zwickmühle stecken und keine direkte Wahl haben, da rauszukommen. Die Tatsache jedoch, daß es im Moment trotzdem Widerstand innerhalb der Streitkräfte gibt, erscheint dann nahezu unglaublich.

Wie sieht es in diesem Zusammenhang mit den Kriegsdienstverweigerern aus? Wie werden sie von der Friedensbewegung unterstützt?

Die Frage der Kriegsdienstverweigerung ist ein wichtiges Thema für die Friedensbewegung in den USA. Wir arbeiten verstärkt mit einer Organisation namens »Courage to Resist« zusammen. Sie ermutigt Militärangehörige zum Protest gegen den Krieg und berät und hilft den einzelnen Angehörigen der Streitkräfte bei Fragen der Verweigerung. Um den Status eines anerkannten Kriegsdienstverweigerers zu erlangen, muß man der Militärbürokratie beweisen, daß man seit dem Tag der Dienstverpflichtung eine fundamentale, grundsätzliche Veränderung der eigenen moralischen Einstellung gegenüber dem Krieg durchgemacht hat. Leutnant Ehren Watada ist der erste US-Armeeoffizier, der den Irak-Einsatz aus moralischen Gründen verweigert hat. Gegen ihn ist nach einem gescheiterten ersten Verfahren ein Kriegsgerichtsverfahren für Oktober anhängig. Ein Kriegsdienstverweigerer im klassischen Sinne ist Watada allerdings nicht, weil er sein Einverständnis erklärt hat, in Afghanistan eingesetzt zu werden. Nach Watadas Ansicht ist der Afghanistan-Krieg berechtigt und der Irak-Krieg illegal. Das sind natürlich keine Positionen eines Kriegsdienstverweigerers, aber trotzdem werden Watada und viele andere Militärangehörige von der Friedensbewegung unterstützt. Die Hürden, als Verweigerer anerkannt zu werden, sind hoch gesteckt. Vielen Soldatinnen und Soldaten wird der rechtliche Status nicht zuerkannt.

Am 19. August veröffentlichte die New York Times einen offenen Brief von sieben Unteroffizieren mit dem Titel »Der Irak-Krieg aus unserer Sicht«. Er beginnt folgendermaßen: »Gegen Ende unseres 15monatigen Einsatzes im Irak erscheint uns die politische Debatte in Washington tatsächlich surreal.« Ist deren Kritik repräsentativ für die sogenannte Stimmung in der Truppe?

Die Kritik ist charakteristisch für die Gespräche, die ich bisher mit Militärangehörigen geführt habe: Die Soldaten im Irak sind grundsätzlich gegen den Krieg eingestellt. Die Medien stricken beständig an der Legende, daß jegliche Kritik am Krieg die Moral der Soldaten untergräbt und daß ein Ende der Kriegsfinanzierung zu Lasten der Soldaten geht. Der in der New York Times veröffentlichte Brief bestätigt hingegen eher meine Auffassung. Für die Friedensbewegung ist es wichtig, die Militärangehörigen zu bestärken, öffentlich Stellung zu beziehen und ihnen zu helfen, Widerstand zu leisten. Der Freund einer Bekannten ist jetzt schon zum zweiten Mal im Irak, und sie schickt ihm mit jeder Postsendung Antikriegssticker, die er in seiner Kaserne weiterreicht. Das ist letztlich schon bezeichnend für die Einstellung der Soldaten.

Die Ähnlichkeiten mit dem Soldatenwiderstand während des Vietnamkriegs sind verblüffend. Aber wie bekommt man die Truppen nun wirklich nach Hause?

Wir haben ein ganzes Paket von Aufgaben zu erledigen. Zum einen müssen wir auf den Kongreß Druck ausüben, daß die Kriegsfinanzierung beendet wird und die Truppen zurückkommen. Zum anderen müssen wir den Soldaten praktische Rückzugsräume anbieten, wo sie in Ruhe überlegen, was sie gemeinsam und mit uns zusammen machen können. In meiner Stadt in Portland bauen wir solche Möglichkeiten für Kriegsgegner im Militär auf. Das ist eine dringende Notwendigkeit zur Unterstützung von Fahnenflüchtigen. Wenn die Polizei bei Verkehrsunfällen zum Beispiel die Personalien feststellt, werden Fahnenflüchtige, die vom Militär gesucht werden, direkt verhaftet. Wir verlangen von unseren Stadträten, daß zum Schutz der Soldaten diese Hilfstätigkeit der Polizei beendet wird. Die Kampagne ist zwar erst im Anfangsstadium, aber sie skizziert deutlich, wie wir uns eine praktische Unterstützung der Truppen vorstellen. Darüber hinaus gibt es einen immensen Beratungs- und Therapiebedarf im gesamten Land. Viele Militärs kommen mit posttraumatischen Langzeitstörungen aus ihren Einsätzen zurück, deren Auswirkungen auf sie selber, ihre Familien und ihre Umgebung einen verheerenden Effekt für das ganze Land haben.

Was folgt aus Ihren Gesprächen mit der deutschen Friedensbewegung anläßlich ihres Besuches in Berlin? Werden nun die Proteste besser vernetzt? Entsteht am Ende gar eine Kampagne gegen die US-Militärstützpunkte hier, die eine zentrale Rolle bei den Militärinterventionen spielen?

Wie haben wirklich gute Diskussionen geführt. Was ich auf jeden Fall in die USA mitnehmen werde, sind die Anregungen, wie hier in Deutschland gegen den Afghanistan-Krieg protestiert wird. Das kann uns in den USA tatsächlich weiterhelfen. Die Grußworte von 19 nach Kanada geflüchteten US-Soldaten an die Demonstration gegen den Afghanistan-Krieg am 15. September in Berlin können als erstes Beispiel gelten, wie Kriegsgegner aus dem Militär zum ersten Mal gemeinsam gegen den diesen Krieg öffentlich Stellung beziehen. Bisher war der Protest hauptsächlich gegen den Irak-Krieg gerichtet. Wir können die Erfahrungen, die bei den Kampagnen gegen den Afghanistan-Krieg in Großbritannien, Kanada und Deutschland gemacht werden sehr gut nutzen.
Die US-Militärbasen in Deutschland sind ein wichtiger Schlüssel für die globale Kriegsführung der USA. Das bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Friedensbewegung in Deutschland und in den USA. Wir haben uns darüber unterhalten, wie die Parole »Unterstützt die Truppen und nicht den Krieg« hier umgesetzt werden könnte. Die Friedensaktivisten in Deutschland müssen überlegen, wie sie mit den hier stationierten Streitkräften und vor allem auch ihren Familienangehörigen gegen den Krieg kooperieren.

Interview: Dago Langhans

* Aus: junge Welt, 29. September 2007


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