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Eine Kurzanalyse der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie

Aus dem Haus der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten ist hier zu Lande bei Völkerrechtler, bei politischen Kommentatoren und in der interessierten Öffentlichkeit überwiegend auf Kritik und Ablehnung gestoßen. In der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung fällt die Kritik wesentlich verhaltener aus, wie eine "Kurzanalyse" von Dr. Karl-Heinz Kamp zeigt. Vor allem versucht er dem Eindruck entgegenzutreten, die USA wollten mit ihrer Strategie alles über Bord werfen, was in den letzten Jahrzehnten als Konsens der westlichen Allianz gegolten hat: die Strategie der Abschreckung. Sie gelte weiter als ein wesentliches Element der Sicherheitsvorsorge, meint Kamp, um aber gleichzeitig hinzuzufügen, dass im Kampf gegen den internationalen Terrorismus dieses Konzept nicht mehr verfängt, da sich Terroristen eben nicht "abschrecken" ließen. Die Crux ist nur, aber darauf lässt sich Kamp kaum ein, dass die US-Administration künftig vor allem mit dem Terrorismus als Gegner der "freien Welt" rechnet, sodass sich der "preemptive strike" als das Normale und Alltägliche, die reine präventive Abschreckung hingegen nur als Residualgröße für "klassische" Staatenkonflikte ohne größere praktische Relevanz erweist. Lediglich an einer Stelle schwant Kamp Ungemacht: "Würden die USA das Interventions- und Präventionsprinzip künftig durchgehend anwenden, so ergäbe sich angesichts einer stets vorhandenen latenten Terrorismusgefahr eine geradezu permanente Interventionslage, mit den entsprechenden Gefahren für die internationale Stabilität", schreibt er, verfolgt den Gedanken aber nicht weiter, da er offenbar nicht damit rechnet, dasss die USA so verfahren "würden".
Kamp zeigt übrigens, dass die neuen Überlegungen der USA in Europa kaum auf Gegenliebe stoßen, dass sie in der NATO aber durchaus schon operationalisierbar gemacht werden. So wurde etwa in der NATO-Krisenmanagement-Übung CMX 2002 (im Mai 2002) von den USA und der Türkei ein Präventivkrieg gegen einen vermuteten potenziellen Angreifer durchgespielt.
Zuzustimmen ist Kamp auch, wenn er sagt, dass sich bisher immer die strategischen Konzepte der USA über kurz oder lang auch in der NATO durchgesetzt haben. Kamp und die Konrad-Adenauer-Stiftung und die CDU mögen das gut finden - wir sehen darin ein großes Problem. Letzten Endes bedeutet das Konzept nämlich einen Rückfall in Zeiten, in denen es keine UN-Charta, kein Gewaltverbot und keine internationale Übereinkunft über die Ächtung des Krieges (Kellogg-Pakt 1928) gab. Denn das Recht auf einen "Präventivschlag" haben dann nicht nur die USA und die mit ihnen verbündeten Staaten, sondern alle anderen Staaten dieser Welt auch. Indien genauso wie Pakistan, Nordkorea genauso wie Südkorea, China genauso wie Russland. Kamp tut die möglichen Fragen, die damit aufgeworfen sind (insbesondere die Zerstörung des Völkerrechts und des UN-Regimes) mit dem lapidaren Hinweis ab, die Vereinten Nationen hätten bei ihrer Gründung vor über 50 Jahren die "heutigen Gefahren" nicht erfasst.
Wir dokumentieren im Folgenden die Analyse von Karl-Heinz Kamp, gekürzt um die einleitenden Abschnitte, die sich mit der Genese der US-Sicherheitsdoktrin befassen. Das ganze Papier ist nachzulesen auf der Homepage der Konrad-Adenauer-Stiftung (http://www.kas.de/publikationen/2002/862_dokument.html).
Pst



The National Security Strategy

Kurzanalyse der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie

Von Dr. Karl-Heinz Kamp


25. Sept. 2002
Hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Am 20. September wurde die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA offiziell dem Kongress vorgelegt und der Öffentlichkeit präsentiert (www.whitehouse.gov/nsc/nss.html). In vielen Kommentaren der nationalen und internationalen Presse wurde dem Dokument ein geradezu dramatischer Charakter beigemessen, weil die Vereinigten Staaten von Amerika darin die völlige Abkehr von der bisher gültigen Konzeption der Abschreckung sowie die Hinwendung zur Strategie der militärischen Prävention und des alleinigen Handelns vollzogen hätten. Meist wurden dabei die nicht-militärischen Elemente der Sicherheitsvorsorge (Streben nach Gerechtigkeit und Menschenwürde, Demokratieförderung, Wirtschaftswachstum und Freihandel), die in dem Strategiepapier breiten Raum einnehmen, unterschlagen. Allerdings haben die Autoren des Papiers zu dieser thematischen Verengung nicht unwesentlich beigetragen, indem sie jedes der neun Kapitel mit einem Bush-Zitat einleiten - allein vier dieser Zitate stammen aus der "Preemptive-Strike-Rede" des Präsidenten in West Point.

Aber selbst wenn man sich auf die Aussagen zum Verhältnis von Abschreckung und Prävention beschränkt, ergibt sich bei genauer Betrachtung ein differenzierteres Bild. Zunächst wird die Strategie der Abschreckung nicht - wie in Presseberichten kolportiert - als "tot" erklärt. Statt dessen wird sie bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Gefahr durch Massenvernichtungswaffen nach wie vor genannt ("we must deter and defend aganist the threat before it is unleashed", S. 14). Auch wird dem Schutz der Bevölkerung vor den Auswirkungen von Einsätzen mit Massenvernichtungswaffen ein Abschreckungseffekt zugeschrieben, weil den Angreifern damit ihre Zielsetzung vereitelt würde. Tatsache ist allerdings, dass der Abschreckung künftig ein anderer Stellenwert beigemessen wird und dass sie eine andere Auslegung sowie eine Erweiterung erfahren soll. Anders als im Kalten Krieg will man sich nicht mehr allein auf die Abschreckung durch eine Vergeltungsdrohung verlassen, weil terroristische Angreifer, wie etwa Selbstmordattentäter, gegenüber einer solchen Drohung weitgehend immun sind. Wenn aber das traditionelle Verständnis von Abschreckung durch Bestrafung gegenüber bestimmten Bedrohungen nicht mehr anwendbar ist, so können sich die USA nicht mehr länger auf rein reaktive Strategien verlassen ("The inabilitiy to deter a potential attacker, the immediacy of doday's threats, and the magnitude of potential harm that could be caused by our adversaries' choice of weapons do not permit that option.", S. 15).

Weil es sich die USA angesichts der Sicherheitsgefährdungen durch "Rogue States", Massenvernichtungswaffen und Terrorgruppen nicht leisten können, einen ersten feindlichen Schlag abzuwarten ("We cannot let our enemies strike first", S. 15), werden im Einzelfall auch präventive Militärschläge zur unmittelbaren Gefahrenabwehr erwogen. Dies wird als Akt legitimer Selbstverteidigung gesehen. ("...we will not hesitate from acting alone, if necessary, to exercise our right of self defense by acting preemtively...", S. 6) Allerdings gesteht die neue Strategie zu, dass das internationale Rechtsverständnis von der "unmittelbaren Gefahr" weiterentwickelt werden müsse, um den aktuellen Bedrohungen durch den Terrorismus zu entsprechen. Auch streben die USA künftig an, ihre Aufklärungskapazitäten und ihre militärischen Fähigkeiten so auszubauen, dass präventives Handeln erleichtert wird.

Bei aller Betonung der eigenen Machtfülle und der Entschlossenheit, im Extremfall auch allein gegen vitale Bedrohungen vorzugehen, spiegelt das Dokument doch eindeutig die Erkenntnis der Bush-Administration wieder, dass Terrorismusbekämpfung nicht unilateral zum Erfolg führen kann. Um gegen Terrorismus unter den Rahmenbedingungen einer globalisierten Welt vorzugehen bedürfen die USA der Hilfe durch Freunde und Verbündete und werden deshalb stets die Unterstützung von Staaten oder Regionalorganisationen suchen (S. 7). So ist etwa die Unterbrechung der Finanzströme von Terrornetzwerken nur im internationalen Verbund möglich. Eigenmächtiges oder präventives Handeln wird immer auf das Ausschalten einer "spezifischen Bedrohung" gerichtet sein (S. 16). Damit sind "preemption" und "unilateral action" keine Prinzipien sondern Optionen, die erwogen werden, wenn auf andere Weise kein Erfolg zu erwarten ist.

Bewertung

Wie ihre Vorgänger muss auch die neue National Security Strategy in ihrem historischen und politischen Kontext gesehen werden und gibt damit Raum für Interpretationen. Auch wird sie aufgrund ihrer teilweise eindeutigen und kontroversen Äußerungen sowie ihrer aktuellen Bezüge eine breite Debatte nach sich ziehen.

Entkoppelt man das Strategiedokument von der derzeit hitzig geführten Diskussion um einen möglichen Militärschlag gegen den Irak, so ist es auch hinsichtlich der umstrittenen Passagen zur Abschreckung und Prävention weniger revolutionär als es in manchen Kommentaren den Anschein hat.

So haben sich etwa auf dem Feld der Abschreckung die USA schon seit längerem nicht mehr allein auf die Option von Vergeltungsdrohungen verlassen. Spätestens seit der "SDI-Rede" von Präsident Reagan am 23. März 1983, in der die USA die Schaffung einer Raketenabwehr angekündigten, wurde das Konzept der Abschreckung durch Vergeltung nach einem Angriff um dem Aspekt der Verteidigung gegen einen Angriff angereichert. Auch hier trifft die Formulierung aus der heutigen Sicherheitsstrategie zu: "We cannot let our enemies strike first". Diese Idee der Verteidigung gegen die Raketenbedrohung hat ab Ende der neunziger Jahre eine Renaissance erlebt.

Selbst Prävention gegen "Rogue States" ist kein völlig neues Element sondern eine Option, welche die USA aufgrund ihrer Machtfülle stets besessen haben und vermutlich auch gewählt hätten, um vitale Bedrohungen abzuwehren. So hat der ehemalige Außenminister George P. Shultz zu Protokoll gegeben, dass er bereits 1984 nach den Bombenanschlägen gegen amerikanische Einrichtungen in Beirut für "active prevention, preemption and retaliation" plädiert habe. Offene Fragen und mögliche Konsequenzen

Wenn auch zu alarmistischen Bewertungen der neuen Sicherheitsstrategie kein Anlass besteht, so ergeben sich dennoch zentrale Fragen hinsichtlich möglicher internationaler Konsequenzen des Strategiewechsels.

Prävention und Völkerrecht

Zunächst wirft die generelle Rechtfertigung von präventiven Militärschlägen als Akte legitimer Selbstverteidigung Fragen nach der völkerrechtlichen Vereinbarkeit auf. Zwar ist in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen das "naturgegebene Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung" verankert, allerdings setzt dies voraus, dass ein Angreifer bereits militärische Gewalt angewendet hat. Demnach sind präventive militärische Aktionen allein gegen die Vorbereitung möglicher Angriffshandlungen nicht statthaft. Andererseits kann es sehr wohl Extremsituationen geben, in denen dem potentiellen Opfer ein weiteres Abwarten nicht mehr zugemutet werden kann. Gerade angesichts der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der entsprechenden weitreichenden Trägersysteme würde das Warten auf den "Beweis" für die Angriffsabsicht des Gegners letztlich bedeuten, dass man die Detonation einer chemischen, biologischen oder gar atomaren Waffe auf dem eigenen Territorium erdulden müsste.

Hier zeigt sich - wie auch vor der Intervention der NATO im Kosovo - dass die UN-Charta als Dokument, welches vor einem halbem Jahrhundert entstand, noch zu sehr an der Gefahr von Konflikten zwischen Staaten ausgerichtet ist. Die heutigen Gefährdungen, wie etwa Konflikte innerhalb von Staaten, die Bedrohung durch nicht-staatliche Akteure (Terrorismus) oder die extrem kurzen Reaktionszeiten im Falle erfolgter Angriffe, werden nicht erfasst. Gerade weil das Völkerrecht hinsichtlich neuartiger Risiken ergänzungsbedürftig ist, hat sich auch die NATO mit dem Beginn ihrer Luftangriffe in Kosovo über eine enge Auslegung der UN-Charta hinweggesetzt und die Militäraktionen ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates durchgeführt.

Internationale Konsequenzen

Ein weiteres Problem präventiver Militärschläge liegt darin, dass daraus immer ein Präzedenzfall für andere Staaten abgeleitet werden kann. Jeder militärisch potente Staat könnte sich künftig bei einer militärischen Intervention darauf berufen, durch gefährliche Machenschaften in seinem Nachbarland zur Prävention gezwungen gewesen zu sein. Andererseits ist es sicher nicht allein das fehlende Vorbild, das Staaten bislang von Präventivschlägen abhält, sondern die sorgfältige Abwägung von Kosten und Nutzen einer solchen Aktion. So dürfte sich etwa China kaum allein deshalb für einen präventiven Schlag gegen Taiwan entscheiden, wenn es sieht, dass die USA einen solche Aktion gegenüber einem anderen Land vorexerzieren.

Fraglich ist auch die Objektivität der Kriterien, nach denen die USA oder andere Länder eine Intervention in Erwägung ziehen. Die sicherlich berechtigen Vorwürfe, die derzeit gegen den Irak erhoben werden, lassen sich vermutlich in ähnlicher Weise etwa auf Nordkorea anwenden. Allerdings haben die USA in der Vergangenheit zur Verhinderung eines nordkoreanischen Zugangs zu Atomwaffen nicht den Weg der Intervention gewählt. Statt dessen erhielt das zweifellos verbrecherische und gegen die USA gerichtete Regime in Nordkorea erhebliche amerikanische Finanzhilfen, um die Produktion waffenfähigen Spaltmaterials einzustellen. Würden die USA das Interventions- und Präventionsprinzip künftig durchgehend anwenden, so ergäbe sich angesichts einer stets vorhandenen latenten Terrorismusgefahr eine geradezu permanente Interventionslage, mit den entsprechenden Gefahren für die internationale Stabilität.

Schließlich bleibt noch die Frage nach der Informationsbasis, auf die eine Präventionsentscheidung gegründet wird. Zwar wird in der neuen Strategie erwähnt, dass die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung verbessert werden sollen - allerdings garantiert dies nicht automatisch ein zutreffendes Lage- und Bedrohungsbild. Die amerikanischen Angriffe am 20. August 1998 gegen eine vermeintliche Chemiewaffenfabrik im Sudan, die als Vergeltung für die Anschläge in Kenia und Tansania geflogen wurden, haben nach Presseberichten lediglich eine pharmazeutische Anlage in Schutt und Asche gelegt.

Auswirkungen auf die NATO

Amerikanische Beobachter weisen häufig darauf hin, dass die NATO von dem aktuellen amerikanischen Strategiewechsel kaum betroffen sei, weil die Bush-Administration frühzeitig habe durchblicken lassen, dass man im Fall präventiver Aktionen (ähnlich wie in Afghanistan) kaum auf die NATO zurückgreifen würde. Diese Sicht ignoriert aber zwei wichtige Faktoren. Zunächst beeinflusst jeder Strategiewechsel der Bündnisvormacht USA früher oder später sowohl die strategischen Konzeptionen der übrigen Allianzpartner, wie auch die Strategie der NATO insgesamt. Darüber hinaus würden präventive Militärschläge eventuell von Stützpunkten der USA auf dem Territorium der Verbündeten erfolgen oder zumindest von dort aus vorbereitet werden.

Ohnehin nimmt die Frage möglicher präventiver Militäraktionen bereits jetzt breiten Raum in den Diskussionen im Bündnis hinsichtlich des im November geplanten NATO-Gipfeltreffens in Prag und des dort zu verabschiedenden neuen Militärkonzepts ein. Dabei zeigen sich erhebliche Differenzen - allerdings nicht allein zwischen den USA und den europäischen NATO-Mitgliedern, sondern zwischen potentiell betroffenen und nicht-betroffenen Staaten. So wurde im Mai 2002 in der NATO-Krisenmanagement-Übung CMX 2002 das Szenario eines möglichen Angriffs auf die Türkei mit chemischen und biologischen Waffen durch einen mittelöstlichen Staat durchgespielt. Angesichts der simulierten unmittelbaren Gefahr sprachen sich sowohl die USA, wie auch die Türkei als bedrohtes Allianzmitglied vehement für präventive Aktionen aus, während die übrigen Bündnispartner dies strikt ablehnten. Die Übung musste ob dieses Streits vorzeitig abgebrochen werden.

Mittlerweile hat auch NATO-Generalsekretär George Robertson Signale hinsichtlich präventiver Aktionen ausgesandt, indem er laut Presseberichten erklärte: "Waiting for an attack to take place might not be the best choice." Optionen für Europa

Mit der neuen Strategie haben die USA eine Richtung vorgegeben, die weder von der NATO noch von den europäischen Bündnispartnern ignoriert werden kann. Dies gilt umso mehr als angesichts der neuen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ein Überdenken der traditionellen Methoden der Sicherheitsvorsorge auch von europäischer Seite unabdingbar ist. Hier gibt es innerhalb der NATO und der EU noch erheblichen Gesprächsbedarf.
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