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Der mutige Träumer

Vor 40 Jahren wurde Martin Luther King ermordet. Er hatte die Frage nach dem kapitalistischen System gestellt

Von Doris und George Pumphrey *

US-Regierungen bekämpften Martin Luther King zu seinen Lebzeiten und vereinnahmten ihn nach seinem Tod. Sie zelebrierten ihn als ein Symbol der Gewaltlosigkeit, die sie mit der eigenen Politik dementieren. Rassismus – darauf wies Barack Obama am 18. März in einer bemerkenswerten Rede hin – blieb in weiten Teilen der US-Gesellschaft fest verankert. Wie Kriege und soziales Unrecht. Martin Luther King hatte diesen Zusammenhang über den Kampf für Bürgerrechte hinaus erkannt: Ein System, das Bettler produziert, müsse umgebaut, die Frage nach dem Eigentum gestellt werden, sagte er. Heute vor 40 Jahren wurde er Opfer eines Attentats.

Es war der Abend des 4. April 1968, als Martin Luther King in Memphis (Tennessee) auf dem Balkon des Lorraine Motels durch einen gezielten Schuss getötet wurde. Der »Einzeltäter« war schnell gefunden und die Medien sorgten für seine Vorverurteilung. James Earl Ray, der zu 99 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, erstrebte bis zu seinem Tod 1998 eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Rays letzter Anwalt und Freund von Kings Familie, William F. Pepper, recherchierte über zwei Jahrzehnte die Hintergründe des Mordes. Auf eine Zivilklage hin urteilte ein Geschworenengericht in Memphis 1999, Regierungsorganisationen seien an der Verschwörung gegen King beteiligt gewesen. Obwohl dieser Prozess das ganze Ausmaß der Widersprüche zur offiziellen Version der »Einzeltäterschaft« offengelegt hatte, verkündete das US-Justizministerium ein Jahr später, es gäbe keine ausreichenden Gründe für eine weitere Untersuchung. Aber wer hätte ernsthaft etwas anderes erwartet nach dem Krieg, den die US-Regierung mit Hilfe des FBI gegen den prominentesten Führer der Bürgerrechtsbewegung geführt hatte?

Als in der Folge des Watergate Skandals 1972 immer mehr Informationen über CIA- und FBI-Aktivitäten gegen andere Staaten und die eigene Bevölkerung öffentlich wurden, sah sich der US-Senat 1975 gezwungen, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Dessen 1976 veröffentlichter Schlussbericht gibt Einblick in die geheimdienstlichen Aktivitäten gegen Hunderttausende Bürger der USA. Auf Anordnung des FBI-Direktors J. Edgar Hoover wurde 1956 das Counter Intelligence Program (COINTELPRO) aufgelegt. Es richtete sich zunächst gegen die Kommunistische Partei der USA sowie gegen andere demokratische Organisationen und Persönlichkeiten, die sich gegen die Kommunisten-Jagd unter McCarthy wandten. In der Folgezeit wurde es auf die Opposition gegen Rassismus und Krieg erweitert. Im besonderen Visier: Martin Luther King. Er sollte »neutralisiert« werden. Wie der Senatsausschuss feststellte, unterlag das FBI in der Kampagne gegen King keinen Einschränkungen durch die Regierung.

Seit Ende der 50er Jahre hatte das FBI ein Auge auf den Pfarrer geworfen. Der eloquente Organisator der Bewegung gegen die Apartheidgesetze in den Südstaaten wurde zum Symbol des Kampfes gegen die Rassendiskriminierung, der sich bald über das ganze Land ausbreitete. Als King im August 1963 vor 250 000 Demonstranten in Washington seine berühmte Rede hielt und sagte: »Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden«, erklärte ihn FBI-Direktor Hoover zum »gefährlichsten und wirkungsvollsten« schwarzen Führer des Landes, er stehe unter »kommunistischem Einfluss«.

Das FBI beobachtete fortan alle seine Bewegungen und Aktivitäten durch Agenten, Informanten und technische Überwachung. Seine Wohnung und Hotelzimmer wurden abgehört, ebenso wie die Wohnungen und Büros seiner Mitarbeiter. Seine Organisation wurde infiltriert. Das FBI überlegte, wie es »verärgerte Bekannte«, »aggressive Journalisten«, farbige Agenten und selbst Kings Ehefrau gegen ihn benutzen und »eine gut aussehende Frau in Kings Büro platzieren« könnte. Schwächen von Mitarbeitern sollten recherchiert werden, um sie zur Spionage gegen King zu erpressen. Falsche Informationen sollten internen Streit entfachen.

Das FBI warnte Kongressabgeordnete sowie kirchliche Repräsentanten und Organisationen vor der »Gefahr«, die King darstelle. Selbst der Papst sollte beeinflusst werden, King nicht zu empfangen. Es wurde versucht, auf Regierungen der Länder einzuwirken, die King anlässlich des Erhalts des Friedensnobelpreises besuchen wollte, damit sie ihm keinen allzu großen Empfang bereiten würden. Universitäten sollten davon abgebracht werden, King die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Gerüchte über ein geheimes Schweizer Bankkonto und persönliche Bereicherung Kings wurden gestreut, um Spenden für den Kampf zu verhindern. Ganz besonders bemühte sich das FBI um die Medien. Über Kontakte mit Journalisten sollten Artikel, die positiv über King berichten, verhindert und negative platziert werden, entweder direkt aus der Feder des FBI oder durch Lieferung »vertraulicher Informationen«.

Doch der Kampf der Schwarzen war nicht aufzuhalten. Gleichzeitig wuchs die Opposition gegen den Vietnamkrieg. King stand unter Druck: Weiße Sympathisanten aus bürgerlichen Kreisen, vor allem in Politik und Medien, warnten ihn davor, sich in einen Krieg einzumischen, »den die USA gegen den Kommunismus führt«. Und wohlhabendere Schwarze befürchteten, dies könnte der Durchsetzung der Bürgerrechte schaden. Schließlich durchbrach King, was er »den Verrat meines eigenen Schweigens« nannte. Er wollte nicht länger zusehen, wie schwarze und weiße Amerikaner, die in den Schulen ihres Landes nicht nebeneinander sitzen durften, in Vietnam »miteinander in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen.«

Die Abschaffung der Apartheidgesetze war unter seiner Führung erkämpft worden. Doch King ging weiter. Er fragte, was es nütze, wenn Schwarze zwar das Recht erkämpft hätten, im Restaurant neben Weißen zu sitzen, viele von ihnen und alle anderen Armen sich aber kein Essen im Restaurant leisten könnten. Er begann die Fundamente des amerikanischen Systems in Frage zu stellen.

In den schwarzen Ghettos des Nordens rebellierten die Armen gegen die rassistische Unterdrückung. Konfrontiert mit der Gewalt, die von Washington aus vor allem gegen die Schwarzen im eigenen Land und gegen die Bevölkerung Vietnams ausgeübt wurde, erklärte der Mann, der zum Symbol des gewaltlosen Kampfes geworden war, er könne nicht länger die Gewalt der Unterdrückten kritisieren, solange er zur Gewalt der eigenen Regierung schweige.

Am 4. April 1967, genau ein Jahr vor seiner Ermordung, klagte King die US-Regierung als den »größten Gewaltausüber in der heutigen Welt« an. In einer Rede in der Riverside Church in New York, kritisierte er die »tödliche westliche Arroganz, die die internationale Atmosphäre vergiftet«, die »Überheblichkeit des Westens, der meint, alle anderen belehren zu müssen, ohne selbst von ihnen zu lernen«. Er forderte, die Stimme für die zu erheben, »die als unsere Feinde bezeichnet werden« und »den Standpunkt des Gegners zu verstehen, seine Fragen zu hören und zu lernen, wie er uns einschätzt.« Er appellierte an die US-Soldaten, den Dienst in einem Krieg »auf der Seite der Wohlhabenden und Gesicherten gegen die Armen« zu verweigern. Kings Kritik richtete sich nicht nur gegen die Unterstützung der US-Regierung für die südvietnamesische Militärdiktatur, sondern gegen die Grundlage der Außenpolitik der USA, die im Bündnis mit den Reichen Kriege gegen die Armen in Asien, Afrika und Lateinamerika führten. Er forderte eine »Revolution der Werte«. Denn wenn »Profitstreben und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können«.

Für Martin Luther King war fortan der Kampf gegen Rassismus, gegen Krieg und soziales Unrecht ein einziger Kampf. Das offizielle Washington war besorgt. Die Medien wandten sich gegen ihn. King drohte vom populären Sprecher für die Gleichheit der Schwarzen vor dem Gesetz zum Sprecher für alle zu werden, die unter sozialem Unrecht und Krieg litten. Er plante die »Kampagne der Armen«, die im Frühjahr 1968 einen Höhepunkt finden sollte: Eine »Armee der Armen aller Rassen« sollte nach Washington marschieren und die Stadt und den Kongress mit Massenaktionen des zivilen Ungehorsams lahmlegen. Die Unterstützung des Streiks der Müllabfuhrarbeiter in Memphis (Tennessee) sollte die »Kampagne der Armen« einläuten. Am 5. April wollte Martin Luther King ihren Protestmarsch anführen.

Eines Tages müsse die Frage gestellt werden, warum es so viele Arme in Amerika gibt, hatte Martin Luther King erklärt, »wenn wir aber diese Frage stellen, dann stellen wir die Frage nach dem kapitalistischen System«.

* Aus: Neues Deutschland, 4. April 2008


Hier geht es zu zwei großen Reden von Martin Luther King Jr. (deutsch und englisch):



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