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35 Jahre Militärhaft für Manning

Empörung über Urteil gegen »Wikileaks«-Informanten

Von Max Böhnel, New York *

Zu 35 Jahren Militärhaft ist am Mittwoch der »Wikileaks«-Informant Bradley Manning verurteilt worden. Dem 25-jährigen Gefreiten, der US-Kriegsverbrechen enthüllt hatte, werden darüber hinaus Sold und Sozialleistungen entzogen. Er wird unehrenhaft aus der Armee entlassen.

Das gnadenlose Urteil gegen Manning hatte die Militärrichterin Denise Lind kurz nach 10 Uhr morgens im kleinen Gerichtssaal von Fort Meade (US-Bundesstaat Maryland) ohne Begründung verlesen. Der Spruch kam nicht unerwartet. Denn dass Manning erst als alter Mann wieder in Freiheit sein soll, hatte vor wenigen Tagen bereits die Staatsanwaltschaft mit mindestens 60 Haftjahren gefordert. Mit der Strafe folgte Lind der Begründung der Ankläger, damit solle auch eine Warnung für mögliche Nachahmer ausgesprochen werden.

In ersten Reaktionen gaben sich Beobachter dennoch entsetzt über das Urteil. Der US-Journalist Glenn Greenwald, der die NSA-Geheimdateien von Edward Snowden an die Öffentlichkeit gebracht hatte, kommentierte es im Kurznachrichtendienst Twitter mit den Worten »krank, traurig, entsetzlich und ekelhaft«. Nun müsse sich niemand wundern, weshalb Snowden der US-amerikanischen Justiz nicht vertraut. Gegenüber »nd« wies der New Yorker Anwalt Chase Madar, Autor eines Buches über den Fall Manning, darauf hin, dass bisher kein einziger Verantwortlicher für den Irak-Krieg zur Verantwortung gezogen worden sei, »nicht die Architekten des Krieges, nicht die CIA-Folterkommandos und auch nicht die zahllosen Journalisten, die die Kriegspropaganda der Regierung so leichtfertig übernahmen«. Manning diene jetzt als »Sündenbock für den Irak-Krieg«. Darüber hinaus zeige die drakonische Strafe »die bodenlose Verwirrung darüber, was amerikanische Sicherheit sein soll«, wenn die Botschaft ignoriert wird und der Überbringer der Botschaft hinter Gittern verschwindet.

Noch am Abend wollten sich in vielen USA-Städten, darunter auch in Washington vor dem Weißen Haus, Demonstranten versammeln und erneut die Freilassung Mannings fordern. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International und das Unterstützernetzwerk für Manning kündigten unterdessen die Online-Petition pardon.bradleymanning.org an, die an US-Präsident Barack Obama gehen soll. In der Petition heißt es: »Die Information, die Bradley Manning an die Öffentlichkeit weitergab, enthüllte die ungerechte Inhaftierung unschuldiger Menschen in Guantanamo Bay, zeigte uns die wahren menschlichen Kosten unserer Kriege in Irak und Afghanistan und veränderte den Journalismus für immer. Es gibt keinen Beweis, dass irgend jemand als Folge der Enthüllungen gestorben ist.«

Die LINKE-Politikerin Sevim Dagdelen bezeichnete das Urteil als »einer Diktatur würdig, gegen die die USA vermeintlich immer für Recht und Demokratie zu Felde ziehen«. Hinter Gitter, so Dagdelen weiter, »gehören aber die, die die Kriegsverbrechen anordnen, begehen oder vertuschen«.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 22. August 2013


Manning verknackt – Kriegsverbrecher frei

US-Militärgericht verurteilt Whistleblower zu 35 Jahren Haft

Von Jürgen Heiser **


Wegen Spionage und Diebstahl von Geheimdokumenten soll Bradley Manning für 35 Jahre ins Gefängnis. Dieses Strafmaß verkündete am Mittwoch morgen um 10.16 Uhr Ortszeit Oberst Denise Lind, die Vorsitzende Richterin des US-Militärgerichts Fort Meade. Für die Untersuchungshaft werden dem 25jährigen Obergefreiten 1294 Tage abgezogen, darin enthalten 112 Tage »Wiedergutmachung« für die erlittene neunmonatige Isolationshaft. Gegen das Urteil kann Berufung vor der nächsthöheren Gerichtsinstanz eingelegt werden.

Damit hat sich das Pentagon mit den von der Anklage beantragten 60 Jahren Haft zwar nicht durchgesetzt, trotzdem wurde an dem jungen Soldaten ein Exempel statuiert. Weitere Militär- oder Geheimdienstangehörige sollen davon abgeschreckt werden, Mannings mutigem Beispiel zu folgen und Machenschaften aus den Bereichen der US-Außen- und Sicherheitspolitik zu enthüllen.

Vor dem Tor des Militärgeländes von Fort Meade hatten sich seit dem frühen Morgen zahlreiche Unterstützer Mannings mit Plakaten und Transparenten versammelt, um »Free Brad« und »Schluß mit den Kriegen!« zu fordern. An zahlreichen Orten der USA, Europas und Australiens kam es nach dem Urteil zu spontanen Kundgebungen, so vor der US-Botschaft in London. In Berlin ist für heute um 17 Uhr eine Kundgebung vor der Botschaft der USA am Brandenburger Tor angekündigt.

Die Kommunistische Partei Luxemburgs (KPL) forderte die Regierung ihres Landes auf, sich bei den Behörden der USA für die Freilassung Mannings einzusetzen. Statt diesem gehörten Kriegsverbrecher wie die US-Hubschrauberbesatzungen hinter Gitter, deren Verantwortung für die Ermordung unschuldiger Zivilisten in Bagdad Manning aufgedeckt hatte. »Die Verurteilung des Whistleblowers Bradley Manning zu einer langjährigen Haftstrafe widerspricht jeglichem Verständnis von Demokratie und Gerechtigkeit«, kritisierte auch die Linke-Bundestagsabgeordnete Karin Binder. »Im Gegensatz zu den eigentlichen Tätern, den Todesschützen und deren Vorgesetzten, die sich weiterhin unbehelligt von Justiz und Strafverfolgung ihrer Freiheit erfreuen, wird derjenige, der die Taten öffentlich gemacht hat, seiner Freiheit beraubt.«

Das Urteil gegen Bradley Manning folgt der Logik des Systems: Während der Militärgeheimdienst NSA einräumt, mit seinem Heer von Zehntausenden Spezialisten in der Lage zu sein, drei Viertel der Internetverbindungen in den USA – und damit der Welt – zu überwachen, wird mit Manning ein Whistleblower abgestraft, der es gewagt hat, einen minimalen Bruchteil von dem an die demokratische Öffentlichkeit zu bringen, was Obamas Schnüffler Tag für Tag dienstlich »enthüllen«. Er hat damit nicht »Spionage« betrieben, wie ihm vorgeworfen wird, sondern Gegenspionage im Interesse der Mehrheit der friedliebenden Weltbevölkerung. Manning wollte vor allem seinen Landsleuten die Augen öffnen über die Kriegsgreuel in Irak und Afghanistan, die elende Lage der gesetzwidrig festgehaltenen Häftlinge im US-Militärgefängnis Guantánamo Bay und das hinterhältige Ränkeschmieden der US-Diplomatie. Genau deshalb wird er bestraft.

Wäre er hingegen als Nachrichtenanalyst der US-Armee weiter in Bagdad stationiert geblieben und hätte auf Befehl die sogenannten bewaffneten Oppositionellen, also die Söldner diverser Terrororganisationen, in Syrien, mit Informationen für einen »regime change« in Damaskus versorgt, wie es die CIA seit einiger Zeit offiziell tut, säße er nicht seit über drei Jahren und für die nächsten Jahrzehnte im Gefängnis. Statt dessen wäre ihm irgendwann eine Belobigung durch seinen Präsidenten sicher gewesen, der seit Jahren völkerrechtswidrig die Zivilbevölkerung in Somalia, Jemen und Pakistan mit seinen Morddrohnen terrorisieren läßt.

Das Urteil gegen Manning ist zukunftsweisend im Sinne einer Warnung an alle, Vorsicht walten zu lassen, wenn man sich mit Obamas Achse des Bösen zwischen Pentagon, NSA und CIA anlegt. Es hat auch gezeigt, daß Whistleblower wie der Ex-NSA-Mitarbeiter Edward Snowden und Wikileaks-Gründer Julian ­Assange gut daran tun, sich dem Zugriff der US-Behörden zu entziehen.

Wikileaks-Sprecher Kristinn Hrafnsson spricht in diesem Zusammenhang bereits von einem »Aufstieg des Faschismus in den USA und Großbritannien«. Im Interview mit dem russischen Fernsehsender RT zeigte er sich überzeugt, daß Urteile wie das gegen Manning oder Übergriffe auf Zeitungen wie den britischen Guardian nicht verhindern können, daß mutige Menschen auch weiterhin Verbrechen aufdecken. Wikileaks reagierte am späten Dienstag abend auf die Nachricht, daß die Londoner Tageszeitung auf Druck des britischen Geheimdienstes Computerfestplatten zerstören mußte, indem die Plattform nach eigenen Angaben alle auf den Rechnern gespeicherten Dateien im Internet zum Download bereitstellte.

Einem Bericht des britischen Independent zufolge war der britische Premierminister David Cameron persönlich in die Aktion gegen den Guardian eingebunden. Er habe den Leiter des Cabinet Office, Jeremy Heywood, angewiesen, Druck auf das Blatt auszuüben, um weitere Enthüllungen zu verhindern. Regierungskreise bestätigten den »Kontakt«. Es habe sich jedoch nicht um eine Bedrohung gehandelt.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. August 2013


Weitere Pressestimmen ***

Huffington Post:
"Manning was a 25-year-old Army private first class at the time of his arrest. He saw himself as an idealist acting to end the wars, and said in online chats with hacker Adrian Lamo that he was particularly concerned about the abuse of detainees in Iraq. No political or military higher-ups have ever been prosecuted for detainee abuse or torture in Iraq, Afghanistan or at Guantanamo Bay. 'One of the serious problems with Manning's case is that it sets a chilling precedent, that people who leak information ... can be prosecuted this aggressively as a deterrent to that conduct,' said Andrea Prasow, senior counterterrorism counsel and advocate in Human Rights Watch's U.S. Program. "Shouldn't we be deterring people who commit torture?'"


LA RAZON (Madrid):
"Die Urteil des US-Soldaten Manning zu einer 35-jährigen Haftstrafe ist nicht zu beanstanden. Erstens wurde es von einem Militärtribunal einer demokratischen Nation verhängt. Zweitens wird die Verhältnismäßigkeit gegenüber vergleichbaren Fällen gewahrt. Und drittens hat der 25-jährige Soldat sein strafbares Verhalten eingeräumt und zugegeben, dass er sein Vaterland verraten hat. Manning hat nicht nur Hochverrat begangen, sondern er hat mit seinem Verhalten auch seine Waffenbrüder und seine übrigen Landsleute in Gefahr gebracht."


LE COURRIER PICARD (Amiens, Frankreich):
"Schuldig ist er. Er räumt es ein und steht dazu. Was schockiert ist die Verbissenheit, mit der die Regierung des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama diese 'Weißen Ritter' des Digitalzeitalters verfolgt hat. Denn was Manning verraten und weltweit öffentlich gemacht hat, ist viel schlimmer als die Enthüllungen selbst, solange diese nicht die Sicherheit des Landes gefährden, dem er diente. Er hat die Existenz von Folter, die Ermordung unschuldiger Zivilisten und Kriegsverbrechen bewiesen. Illegale Taten der US-Regierung. Man hätte erwarten können, dass auch die Akteure dieser furchtbaren Szenen bestraft werden."


KOMMERSANT (Moskau):
"Schließlich scheint das Urteil gegen Manning das Schicksal des früheren US-Geheimdienstmitarbeiters Snowden vorgezeichnet zu haben, der kürzlich vorläufiges Asyl in Russland erhalten hat. Die US-Behörden versuchen, ihn auf allen möglichen Wegen nach Hause zu bekommen, indem sie ihm einen fairen Prozess versprechen. Doch nach dem gestrigen Urteil wird Snowden dies kaum als Möglichkeit betrachten."


Süddeutsche Zeitung (München):
"Das Strafmaß ist brutal, selbst wenn es weit hinter der maßlosen Forderung der Anklage nach 60 Jahren bleibt. Die Regierung hat das Signal der Erbarmungslosigkeit bekommen, das sie wollte: Wer Geheimnisse verrät, der verrät sein Land, wer sein Land verrät, bekommt praktisch lebenslang. Wer also die Öffentlichkeit aufklären möchte, weil er den Staat auf einem falschen, gar gefährlichen Weg wähnt, der wird behandelt wie ein Mörder."

*** Quellen: Huffington Post, 21.08.2013; Presseschau des Deutschlandfunks/Deutschlandradio, http://www.dradio.de; Süddeutsche Zeitung, 22. August 2013;




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