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Eine andere Stadt ist möglich

"Occupy Wall Street" meldet sich in den USA auf den Straßen zurück

Von Max Böhnel, New York *

Nach dem erfolgreichen ersten Frühjahrserwachen vom »May Day« macht »Occupy Wall Street« in New York diese und kommende Woche mit Aktionstagen auf sich und auf soziale Ungleichheit aufmerksam.

»Another City is possible« (Eine andere Stadt ist möglich) heißt der Slogan, mit dem seit Donnerstag und noch bis kommenden Dienstag mit zahlreichen Veranstaltungen und Demonstrationen gegen Haushaltskürzungen und Sparpolitik in der Millionenmetropole New York mobilisiert wird.

Am Samstag schließt sich »Occupy Wall Street« (OWS) in Manhattan dem weltweiten Aktionstag an. Mit einem Sternmarsch von acht verschiedenen Stadtvierteln unweit des Finanzdistrikts sollen die Hochhausschluchten der »Wall Street« angesteuert werden. In einem Aufruf, den ein Bündnis örtlicher Gewerkschaften formuliert hat, heißt es: »Wir wissen, dass die Stadt Milliarden von Dollars sparen könnte, wenn sie den korrupten Deals und Steuererleichterungen für Konzerne und Banken Einhalt gebieten würde.« Die Stadtverwaltung um Bürgermeister Bloomberg sei durchaus in der Lage, ihre Kumpanei mit Zwangsversteigerern von Kleinfamilienhäusern, Kriegsinvestoren und Umweltverschmutzer-Firmen aufzukündigen. Prominenter Demonstrationssprecher ist der Bürgerrechtler Al Sharpton.

Den 1. Mai hatte »Occupy« in monatelangen Vorbereitungen im Winter als Fanal für das laufende Jahr auserkoren. Tatsächlich hielten an dem in den USA normalen Arbeitstag mehrere Tausend Demonstranten die Polizei - und die sensationslüsternen Massenmedien - auf Trab. Nach mehreren über »Facebook«, »Twitter« und in Nachbarschaftsversammlungen angekündigten Aktionen blockierten Hunderte für ein paar Minuten tagsüber Banken. Nach Feierabend stießen Gewerkschaften hinzu. Gut 30 000 Menschen marschierten, teilweise gegen die strengen Regeln verstoßend, im Straßenverkehr und auf Bürgersteigen lautstark zur Wall Street. Es gab zum Glück nur wenige Festnahmen.

Auch in anderen Städten kam es zu 1. Mai-Demonstrationen. Die Resonanz war zwar weit entfernt vom Occupy-Aufruf zum Generalstreik. Aber immerhin: In gewisser Weise »schlossen sich die USA der Welt wieder an«, wie die OWS-Organisatorin Marina Sitrin begeistert über den 1. Mai in den USA sagte. Andererseits war man von dem Occupy-Aufruf zum »Generalstreik« Jahre entfernt. Doch das liegt auch daran, dass der Tag in den USA kein Feiertag ist und außerdem die Gewerkschaften laut Gesetz nicht zu politischen Streiks aufrufen dürfen.

Das Medienecho auf den 1. Mai war äußerst dürftig. Zwar lagen Reporter sämtlicher Zeitungen und TV-Stationen auf der Lauer. Aber da Spektakuläres auf sich warten ließ, konnten OWS und die Gewerkschaften die mediale Schallmauer dieses Mal nicht durchbrechen. Eine Studie der linken Medienbeobachterorganisation FAIR ergab mit Rückblick auf das vergangene halbe Jahr, das mit der zunehmenden Berichterstattung von Aktionen von »Occupy« Ende 2011 auch die Erwähnung von »sozialer Ungleichheit«, von »99 Prozent versus 1 Prozent« und von »Kapitalistengier« in den Massenmedien proportional zugenommen hatte. Von Januar bis März sei die entsprechende Berichterstattung »um das Vierfache« zurückgegangen. Ein Ergebnis der Studie: Die Medien würden sich über OWS »zunehmend langweilen«.

Ob die ausbleibende Würdigung in den bürgerlichen Medien allerdings etwas über die tatsächlichen Stärken und Schwächen der Occupy-Wall-Street-Bewegung aussagt, ist zweifelhaft. Der ehemalige Arbeitsminister in der Clinton-Regierung Robert Reich sagte nach dem 1. Mai, »Occupy« sei im Vergleich mit anderen Bewegungen noch sehr jung, aber »eine der ganz wenigen Hoffnungen«. OWS habe innerhalb weniger Monate den politischen Diskurs in den USA in Richtung soziale Ungleichheit gelenkt. Gegenüber »nd« sagte der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Richard Wolff, die Bewegung stelle einen »historischen Einschnitt« dar. Denn die andauernde Wirtschaftskrise werde »Occupy Wall Street« und der USA-Linken weitere Spielräume für Systemkritik öffnen. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg würden es Teile der Arbeiterschaft und die Linke wieder wagen, das Wirtschaftssystem offen infrage zu stellen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. Mai 2012


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