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Das Paradoxon der Pentagon-Papiere

Erstmals wurden USA-Geheimdokumente zum Vietnam-Krieg vollständig freigegeben

Von Olaf Standke *

Genau 40 Jahre nach der spektakulären Erstveröffentlichung von Teilen der »Pentagon-Papiere« zum Vietnam-Krieg hat die USA-Regierung am Montag (13. Juni) offiziell alle 7000 Seiten freigegeben.

Der Mann macht aus seiner großen Sympathie für Wikileaks kein Hehl. Kein Wunder, ist Daniel Ellsberg doch so etwas wie der Stammvater der Enthüllungsplattform. Sein Name ist unauslöschlich mit den »Pentagon-Papieren« zum Vietnam-Krieg verbunden, die er 1971 ans Licht der Öffentlichkeit brachte und die nun in den USA erstmals vollständig zugänglich sind. Nach ihm, der in Harvard und Cambridge studierte und promovierte, ist auch ein in der Entscheidungstheorie bekanntes Phänomen der Entschlussfassung unter Unsicherheitsfaktoren benannt, das Ellsberg-Paradoxon, das auf seine Forschungen zurückgeht. Der Wirtschaftswissenschaftler, der als hochrangiger Berater im Pentagon und im südvietnamesischen Außenministerium arbeitete, war überzeugter Antikommunist. Das hinderte ihn nicht, mit der Weitergabe geheimer Unterlagen den Glauben in den USA an die Recht- wie Zweckmäßigkeit des Krieges gegen die von Kommunisten regierte Demokratische Republik Vietnam nachhaltig zu erschüttern.

»Die von Robert McNamara (dem damaligen Pentagon-Chef) in Auftrag gegebene geheime Vietnam-Studie ist der Traum eines Historikers und der Albtraum eines Staatsmannes«, schrieb das Nachrichtenmagazin »Newsweek«. Schon die am 13. Juni vor 40 Jahren veröffentlichten Auszüge zeigten, dass alle Präsidenten von Harry S. Truman bis Lyndon B. Johnson die US-amerikanische Öffentlichkeit nach Strich und Faden belogen hatten, und dokumentierten Strategien wie Methoden der Geheimdienste bei der Manipulierung politischer Verhältnisse und bewaffneter Konflikte. Der Vietnam-Krieg sei von langer Hand geplant gewesen, so die »Washington Post«, während die Führung des Landes der Welt etwas anderes weismachen wollte.

Der Versuch der Nixon-Regierung, die Pressefreiheit einzuschränken, scheiterte. Sie konnte nicht verhindern, dass wesentliche Teile der Papiere in der »New York Times« und in der »Washington Post« publiziert wurden. So wie ein Verfahren gegen Ellsberg wegen unerlaubten Besitzes und Diebstahls von Staatsgeheimnissen schließlich eingestellt werden musste. Der Oberste Gerichtshof in Washington hob die Veröffentlichungsverbote in einem Grundsatzurteil als nicht verfassungsgemäß auf. Die Papiere haben die Opposition gegen den Vietnam-Krieg gestärkt und mitgeholfen, den »Freedom of Information Act« mit seiner Novellierung im Jahr 1974 endlich zu einem tauglichen Instrument im Kampf für mehr politische Transparenz zu machen.

Seit Montag (13. Juni) sind nun die vollständigen Dokumente mit dem offiziellen Titel »United States – Vietnam Relations, 1945-1967: A Study Prepared by the Department of Defense« im Nationalarchiv in College Park (US-Bundesstaat Maryland), in drei Präsidentenbibliotheken sowie im Internet einzusehen. Sensationen sind kaum noch zu erwarten. In dem bisher noch nicht veröffentlichten Drittel der 7000 Seiten geht es vornehmlich um die damaligen Friedensverhandlungen mit Nordvietnam.

Die Tageszeitung »USA Today« bezeichnet die Veröffentlichung jetzt als »finalen Akt einer Saga, die vor vier Jahrzehnten das Präsidentenamt, die Presse und den kompletten Regierungsapparat veränderte«. Was auch eine Legende ist, wenn man nur an die schamlosen Lügen denkt, mit denen der Irak-Krieg drei Jahrzehnte später von der Bush-Regierung als legitim verkauft wurde. Vor diesem Hintergrund ergibt für Ellsberg die Veröffentlichung, die er schon mal als »Nicht-Ereignis« charakterisiert hat, dann doch noch einen Sinn – wenn sie dazu beitrüge, dass die Öffentlichkeit endlich die »absurde« Geheimniskrämerei der Regierung hinterfragen würde.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2011


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