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Gefährliche Weltlage

Vor 75 Jahren hielt Franklin D. Roosevelt in Chicago seine "Quarantäne-Rede"

Von Kurt Pätzold *

Am 5. Oktober 1937 begab sich Franklin D. Roosevelt, der im Jahr zuvor zum zweiten Mal zum Präsidenten der USA gewählt worden war, nach Chicago. Dort hielt er aus Anlaß der Einweihung einer Brücke eine Rede. Doch nicht von Ingenieurkunst oder – was angesichts der Millionen Arbeitslosen nahegelegen hätte – von der Schaffung von Arbeitsplätzen durch Staatsaufträge war die Rede, sondern von der Weltlage und den internationalen Beziehungen. Die Thematik allein läßt fragen, warum der Präsident darüber bei einem Anlaß, der das nicht vermuten ließ, gesprochen hat.

Denn es gab keinen aktuellen Grund, der ihn gezwungen hätte, die erste und nicht beste Gelegenheit zu nutzen, sich über Besorgnisse zu äußern, zu denen Ereignisse in sehr verschiedenen Gegenden des Erdballs Anlaß gaben. Und dann noch in einer Weise, die zwar nicht im Ganzen, aber doch in vielen Details Fragen über den Zweck und die Ziele dieses Auftritts aufwarfen. Zudem war der Redetext in den am meisten Aufsehen erregenden Passagen mit dem Staatssekretär des Auswärtigen, Cordell Hull, nicht abgestimmt. So weichen die Interpretationen der Historiker wie schon die von Zeitgenossen, die den Platz dieses Auftritts in der Geschichte der USA betreffen, mehr oder weniger voneinander ab. Manche wollen darin den Auftakt für eine Neuorientierung der US-amerikanischen Außenpolitik sehen, die schließlich im Zweiten Weltkrieg ihren Ausdruck in der Parteinahme gegen die Achsenmächte und für Großbritannien und die mit Krieg überzogene Sowjetunion fand. Eine bruchlose Linie läßt dieser Aspekt jedoch nicht erkennen. Was die Einordnung der Präsidentenrede kompliziert, ist ihre unmittelbare Fortsetzungs- und Folgenlosigkeit.

Historischer Hintergrund

Ihren geschichtlichen Hintergrund bildeten mehrere Ereignisse, an welche die Erinnerungen auch nach einem Menschenalter nicht verblaßt sind. Das zeitlich erste war der am 3. Oktober 1935 begonnene Krieg Italiens gegen Abessinien, der acht Monate später mit der Liquidierung des ostafrikanischen Staates, eines Mitglieds des Völkerbundes, geendet hatte. Es war nicht zu glauben, daß damit Italiens Beutehunger gestillt war. Davon zeugte, und dies war das zweite der Ereignisse, Mussolinis Intervention in den spanischen Bürgerkrieg, der im Juli 1936 begonnen hatte, und in dem sich die Republik gegen putschende Militärs unter Francisco Franco verteidigte. Und – drittens – am 7. Juli 1937 hatte Japan mit einem neuen Krieg gegen China begonnen, um seine Positionen auf dem asiatischen Kontinent, wo es Korea und die Mandschurei als Kolonialgebiete bereits besetzt hielt, weiter auszudehnen. Namentlich die Veränderungen im ostasiatischen Raum berührten Macht- und Wirtschaftsinteressen der USA.

Und dann war inmitten Europas noch jener sich aufrüstende Staat, der Kriegsgegner aus den Jahren 1917/18. Dieses Deutschland mit dem Hakenkreuz hatte soeben eine Vertragsbrücke in das ferne Japan geschlagen. 1936 schlossen die beiden Staaten den Antikominternpakt, dessen Spitze sich, der geheimgehaltene Text eines Zusatzabkommens besagte das, gegen die Sowjetunion richtete. Und nur Wochen vor der Roosevelt-Rede hatte Benito Mussolini Deutschland einen Besuch abgestattet, bei dem ihm triumphale Empfänge durch aufgebotene Massen bereitet wurden. Es zeichnete sich ab, was später die »Achse Berlin–Rom–Tokio« genannt wurde. Noch vor Jahresende trat auch Italien dem antisowjetischen Abkommen bei.

Seinen besorgten Blick auf die Veränderungen auf dem Erdball drückte Roosevelt einleitend in dem Satz aus: »Die politische Weltlage hat sich in der letzten Zeit immer mehr verschlimmert und ist nun geeignet, allen den Völkern und Ländern, die mit ihren Nachbarn in Frieden und Eintracht leben wollen, ernste Besorgnisse und Befürchtungen einzuflößen.« Die großen Erwartungen, die sich mit der Gründung des Völkerbundes und dem Abschluß des Kriegsächtungspaktes im Jahre 1928 verbanden, hätten sich nicht erfüllt. Vor wenigen Jahren setzten vielmehr das nicht näher beschriebene »Gewaltregime und die internationale Gesetzlosigkeit« ein. Die charakterisierte der Präsident dann, ohne daß in der gesamten Rede der Name eines Staates fiel, die USA ausgenommen, so: Es geschehe die bis zum Einsatz von Militär reichende Einmischung in Angelegenheiten fremder Staaten und in das Leben fremder Völker, gebrochen würden internationale Verträge, fremde Gebiete besetzt, hingemordet die Zivilbevölkerung, Frauen und Kinder, durch Bombardements aus der Luft.

Wer über das Weltgeschehen informiert war, wußte, wer und was da apostrophiert wurde, beispielsweise mit der Bemerkung über den Einsatz von Luftwaffen. Den hatten die Italiener in Abessinien praktiziert, die Japaner in China und die Deutschen in Spanien, als sie die baskische Stadt Guernica am 26. April 1937 durch einen Angriff unter der Verantwortung des Stabschefs der Legion Condor, Wolfram von Richthofen, in einen Trümmerhaufen verwandelten.

Dann kam der Redner, ohne sich auf eine Polemik mit den Isolationisten im eigenen Lande einzulassen, zur Sache. Es solle sich niemand – damit waren die Staatsbürger der USA angesprochen – »einbilden, daß Amerika entrinnen werde, daß es Pardon erwarten dürfe, daß die westliche Hemisphäre keinen Angriff zu befürchten habe«. Durch »Isolierung und Neutralität« könne man der Gefahr nicht entrinnen. Was aber war zu tun? Hatte der Präsident sich schon bei der Beschreibung der Zustände jeder herausfordernden Markierung der Verursacher enthalten, so verloren sich seine Ausführungen über die Möglichkeiten und Chancen, Wandel zu schaffen, in einem Wortnebel von Weltgewissen, Völkerrecht, heiligen Verträgen, friedliebenden Nationen, Achtung, Sicherheit, Schutz usw. Das bezeugte seine humanistische Vorstellung vom Wünschenswerten. Doch wie der Weg in einen neuen Weltkrieg zu verbarrikadieren war, darüber kein konkretes Wort.

Unbestimmte Kritik

Was hat der Rede dennoch momentane Aufmerksamkeit verschafft, ein Für und Wider in den USA ausgelöst, Regierungen und Diplomaten veranlaßt, sie zu analysieren und zu entscheiden, ob auf sie öffentlich reagiert werden solle oder besser nicht? Es waren diese beiden Sätze: »Es scheint leider zuzutreffen, daß die Epidemie der allgemeinen Gesetzlosigkeit immer mehr um sich greift. Wenn eine anstrengende Krankheit sich auszubreiten beginnt, verordnet die Gemeinschaft eine Isolierung der Patienten, um die eigene Gesundheit vor der Epidemie zu schützen.« Sie und das darin benutzte Wort »quarantine« waren es auch, die dem Auftritt seine Bezeichnung verschafften: Quarantäne-Rede. Der Ausdruck, der antiepidemische Maßnahmen benennt, wozu die Isolierung von Personen oder Personengruppen gehört, die als Träger von Ansteckungen gelten, mußte, sollte sich damit eine Vorstellung von Handlungen verbinden, aus dem gesundheitspolizeilichen oder klinischen Sprachgebrauch freilich in den politischen übersetzt werden. Jedoch: In Roosevelts Rede fiel kein erklärendes Wort darüber, was solche Isolierung von Staaten praktisch bedeuten konnte. Darüber verweigerte er später auch nachfragenden Journalisten jede Auskunft.

Roosevelt hatte in seiner Ansprache wiederholt von den friedliebenden Nationen gesprochen und zudem den Eindruck erweckt, als seien es Völker, von denen der Krieg, und andere, von denen der Frieden ausgehe. Von Regierungen war nicht die Rede gewesen, geschweige denn von Herrschenden und deren Interessen. Der Rede folgte auch kein Schritt seiner Administration, durch den die auf den Frieden setzenden Regierungen gerufen worden wären, um sich gemeinsam zu beraten, was sich wirksam für den beschworenen Weltfrieden tun ließe. Mit dieser Anonymität und Unbestimmtheit konnten die auf Krieg und Eroberung zielenden Mächte gut leben.

Auf den Tag genau ein Jahr später, am 5. Oktober 1938, teilte Roosevelt dem britischen Premier Neville Chamberlain, der soeben vom Abschluß des Abkommens mit Hitler aus München nach London zurückgekehrt war und dort verkündete, er habe den Frieden »für unsere Zeit« gerettet, seine Zustimmung zu diesem Schritt mit. Selbst der Ruf nach Protest schien vergessen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 29. September 2012

Quellentext: »… um den Frieden zu bewahren«

Krieg – ob mit oder ohne Kriegserklärung – ist ansteckend. Er kann Staaten und Völker erfassen, die von dem ursprünglichen Kriegsschauplatz weit entfernt sind. Wir sind entschlossen, uns nicht in einen Krieg verwickeln zu lassen, aber es gibt keine wirksame Versicherung gegen die verheerenden Auswirkungen eines Krieges und gegen die Gefahr, mit hineingezogen zu werden. (…)

Wenn die Zivilisation weiterleben soll, müssen die Grundsätze des Friedensfürsten wieder zu Ehre kommen. Das erschütterte Vertrauen zwischen Volk und Volk muß wieder ins Leben gerufen werden.

Und das Allerwichtigste ist: Der Friedenswille der friedliebenden Völker muß sich so deutlich geltend machen, daß diejenigen Nationen, die in Versuchung geraten, ihre Verträge zu brechen und die Rechte anderer zu verletzen, von ihren Vorhaben abstehen. Positive Anstrengungen sind notwendig, um den Frieden zu bewahren.

Aus den Schlußpassagen der Quarantäne-Rede Roosevelts

Zur ganzen Rede (englisch) geht es HIER !.




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