Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Schweigen Sie nicht, wenn Dissidenten andernorts inhaftiert und Demonstranten geschlagen werden"

Im Wortlaut: Obamas Rede - nicht in Stuttgart, sondern vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede, die US-Präsident Barack Obama am 23. September 2010 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im UN-Hauptquartier in New York hielt. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst.
Die Zwischenüberschriften haben wir selbst eingefügt.


Rede des Präsidenten

Herr Präsident, Herr Generalsekretär, verehrte Delegierte, meine Damen und Herren. Es ist mir eine große Ehre, fast zwei Jahre nach meiner Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zum zweiten Mal vor dieser Vollversammlung sprechen zu dürfen.

Wir wissen, dass dies keine gewöhnliche Zeit für die Bürger unserer Länder ist. Wir alle haben unsere eigenen Probleme und Prioritäten. Aber es gibt für uns als Politiker und Nationen auch gemeinsame Herausforderungen.

Wir versammeln uns im Rahmen einer Institution, die aus den Trümmern des Krieges entstand und entwickelt wurde, um die Welt in Frieden zu einen. Wir versammeln uns hier in einer Stadt, die seit Jahrhunderten Menschen aus aller Welt willkommen heißt und zeigt, dass Menschen jeder Hautfarbe, jeden Glaubens und aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen können, um gemeinsam nach Chancen zu suchen, eine Gemeinschaft aufzubauen und mit dem Segen der Freiheit zu leben.

Auf der anderen Seite der Türen dieses Saals weisen die Häuser und Stadtteile dieser großartigen Stadt auf ein schwieriges Jahrzehnt hin. Vor neun Jahren stellte die Zerstörung des World Trade Centers eine Bedrohung dar, die keine Grenzen der Würde oder des Anstands kannte. Diesen Monat jährt sich zum zweiten Mal eine Finanzkrise an der Wall Street, die amerikanische Mittelstandsfamilien zerstörte. Diese unterschiedlichen Herausforderungen hatten Auswirkungen auf die Menschen überall auf der Welt. Von Casablanca bis London und von Dschalalabad bis Jakarta wurden Frauen, Männer und Kinder von Extremisten ermordet. Die Weltwirtschaft wurde von der Finanzkrise schwer getroffen, was zu einer Beeinträchtigung der Märkte und geplatzten Träume vieler Millionen Menschen auf allen Kontinenten führte. Diese Herausforderungen für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand werden von tiefer liegenden Ängsten begleitet: Dass sich historischer Hass und religiöse Spaltungen wieder verstärken, dass sich diese immer stärker vernetzte Welt irgendwie unserer Kontrolle entzieht.

Dies sind nur einige der Probleme, mit denen meine Regierung seit ihrem Amtsantritt konfrontiert ist. Heute möchte ich darüber sprechen, was wir in den vergangenen 20 Monaten getan haben, um diese Herausforderungen anzugehen, welche Verantwortung wir für den Frieden im Nahen Osten tragen und was für eine Welt wir für das 21. Jahrhundert aufbauen wollen.

Was wir erreicht haben: Die Rettung der Volkswirtschaft und des Weltfinanzsystems

Lassen Sie mich zuerst darauf eingehen, was wir erreicht haben. Als Präsident stand für mich die Rettung unserer Volkswirtschaft vor einer potenziellen Katastrophe an erster Stelle. In einer Zeit des gemeinsamen Wohlstandes konnten wir das nicht allein bewerkstelligen. Deshalb haben sich die Vereinigten Staaten mit anderen Ländern überall auf der Welt zusammengetan, um Wachstum und eine erneute Nachfrage und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze anzustoßen.

Wir reformieren unser weltweites Finanzsystem. Dabei fangen wir mit der Reform der Wall Street in unserem Land an, damit es nie wieder zu einer solchen Krise kommt. Wir haben die G20 zum Hauptakteur bei der internationalen Koordination gemacht, weil wir in einer Welt des weit reichenden Wohlstandes unsere Zusammenarbeit auf eine breitere Basis stellen und auch die aufstrebenden Volkswirtschaften einschließen müssen – Volkswirtschaften in allen Winkeln der Erde.

Wir haben mit unseren Bemühungen bereits viel erreicht, auch wenn noch viel zu tun bleibt. Die Weltwirtschaft stand am Rande einer Depression, hat sich aber erholt und wächst nun wieder. Wir haben den Verlockungen des Protektionismus widerstanden und suchen nach Möglichkeiten, den internationalen Handel auszuweiten. Wir können und werden nicht eher ruhen, bis diese Saat des Fortschritts aufgeht und zu umfassenderem Wohlstand nicht nur für alle amerikanischen Bürger, sondern für Menschen auf der ganzen Welt führt.

Rückzug aus Irak - Konzentration auf den Kampf gegen Al Kaidaa

In Hinblick auf unsere gemeinsame Sicherheit kämpfen die Vereinigten Staaten einen effektiveren Kampf gegen die Al Kaida, während sie sich aus dem Irak zurückziehen. Seit meinem Amtsantritt hat mein Land fast 100.000 Soldaten aus dem Irak abgezogen. Wir haben das auf verantwortungsvolle Weise getan, denn die Verantwortung für die Sicherheit des Landes wurde an die Iraker übergeben.

Wir konzentrieren uns nun auf den Aufbau einer dauerhaften Partnerschaft mit der irakischen Bevölkerung und werden dabei unser Versprechen, die Truppen bis zum Ende des kommenden Jahres abzuziehen, einhalten.

Während wir uns aus dem Irak zurückziehen, konzentrieren wir uns auf den Sieg gegen die Al Kaida und darauf, ihren Verbündeten einen sicheren Rückzugsort zu verwehren. In Afghanistan verfolgen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten eine Strategie, um die Stoßkraft der Taliban zu brechen und die Kapazitäten der afghanischen Regierung und Sicherheitskräfte aufzubauen, damit Afghanistan Anfang Juli nächsten Jahres die Verantwortung übernehmen kann. Von Südostasien bis zum Horn von Afrika entwickeln wir einen zielgerichteteren Ansatz – einen, der unsere Partner stärkt und terroristische Netzwerke zerstört, ohne dass große amerikanische Truppenkontingente entsendet werden müssen.

Während wir die gefährlichsten Terroristen der Welt verfolgen, verhindern wir auch, dass ihnen die gefährlichsten Waffen der Welt in die Hände fallen und streben nach Frieden und Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen.

Rüstungskontrolle und atomare Nichtverbreitung

Anfang dieses Jahres haben 47 Nationen einen Arbeitsplan verabschiedet, um innerhalb von vier Jahren gefährdetes Atommaterial zu sichern. Wir haben zusammen mit Russland den umfassendsten Rüstungskontrollvertrag seit Jahrzehnten unterzeichnet. Wir haben die Bedeutung von Atomwaffen in unserer Sicherheitsstrategie verringert. Und wir sind hier im Rahmen der Vereinten Nationen zusammengekommen, um den Nichtverbreitungsvertrag zu stärken.

Als Teil unserer Bestrebungen bei der Nichtverbreitung habe ich der Islamischen Republik Iran im vergangenen Jahr die Hand gereicht und betont, dass das Land als Mitglied der internationalen Gemeinschaft sowohl Rechte als auch Pflichten hat. Ich habe darüber hinaus in diesem Saal gesagt, dass Iran zur Verantwortung gezogen werden muss, wenn es seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Und das ist geschehen.

Die iranisch Regierung muss uns von ihren friedlichen Absichten überzeugen

Iran ist der einzige Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrages, der die friedlichen Absichten seines Atomprogramms nicht nachweisen kann, und ein solches Verhalten hat Konsequenzen. Mit der Resolution 1929 des UN-Sicherheitsrates haben wir deutlich gemacht, dass Völkerrecht kein leeres Versprechen ist.

Lassen Sie es mich noch einmal ganz deutlich sagen: Die Vereinigten Staaten und die internationale Gemeinschaft wollen die Differenzen mit Iran beilegen und der Weg der Diplomatie ist weiterhin gangbar, sollte Iran sich entschließen, ihn zu wählen. Aber die iranische Regierung muss ein klares und glaubwürdiges Bekenntnis abgeben und die Welt von den friedlichen Absichten ihres Atomprogramms überzeugen.

Wir kämpfen nicht nur gegen die Verbreitung tödlicher Waffen, sondern auch gegen den drohenden Klimawandel. Nach historischen Investitionen in saubere Energie und Energieeffizienz in unserem eigenen Land haben wir zum Abkommen von Kopenhagen beigetragen, das erstmals alle großen Volkswirtschaften verpflichtet, ihre Emissionen zu senken. Uns ist sehr deutlich bewusst, dass dies nur ein erster Schritt sein kann. Wir werden in Zukunft einen Prozess unterstützen, in dem alle großen Volkswirtschaften ihrer Verantwortung nachkommen, den Planeten zu schützen, wobei die Kraft sauberer Energie als Motor für Wachstum und Entwicklung dient.

Die Vereinigten Staaten sind ebenfalls einmalige Verpflichtungen eingegangen, die sich aus unserer Führungsrolle ergeben. Nach den Regenfällen und Überschwemmungen in Pakistan haben wir unsere Hilfe zugesagt, und wir alle sollten die Menschen in Pakistan beim Wiederaufbau unterstützen. Als die Erde bebte und in Haiti verheerende Zerstörungen verursachte, haben wir gemeinsam mit anderen Ländern reagiert, um zu helfen. Heute würdigen wir diejenigen aus der Familie der Vereinten Nationen, die ihr Leben bei dem Erdbeben verloren haben und verpflichten uns, den Menschen in Haiti zu helfen, bis sie dazu wieder selbst in der Lage sind.

Für eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten ...

Inmitten dieser Umbrüche haben wir konsequent versucht, Frieden zu schaffen. Im vergangenen Jahr habe ich versprochen, mich mit all meiner Kraft für eine Zweistaatenlösung einzusetzen, die Israel und Palästina Seite an Seite in Frieden und Sicherheit existieren lässt und Teil eines umfassenden Friedens zwischen Israel und all seinen Nachbarn ist. Die vergangenen 12 Monate waren nicht leicht, es gab einige positive Entwicklungen und viele Rückschläge. Aber im letzten Monat gab es direkte Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern in Washington, Scharm el Scheich und Jerusalem.

Ich verstehe, dass viele diesen Prozess pessimistisch sehen. Die Zyniker sagen, dass Israelis und Palästinenser sich zu sehr misstrauen und intern zu gespalten sind, um einen dauerhaften Frieden schaffen zu können. Verweigerer auf beiden Seiten werden versuchen, den Prozess mit bitteren Worten, Bomben und Schüssen zu unterbrechen. Einige sagen, dass die Kluft zwischen den beiden Parteien zu groß ist, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Gespräche abgebrochen werden, zu groß ist und dass nach Jahrzehnten der Fehlschläge ein Frieden einfach nicht mehr möglich ist.

Ich habe diese Stimmen des Zweifels vernommen. Aber ich bitte Sie, einmal über die Alternative nachzudenken. Wenn keine Vereinbarung erzielt wird, werden die Palästinenser niemals den Stolz und die Würde kennen lernen, die ein eigener Staat mit sich bringt. Israelis würden niemals die Gewissheit und Sicherheit kennenlernen, die souveräne und stabile, zur Koexistenz entschlossene Nachbarländer mit sich bringen. Die harte Realität der Demografie wird sich durchsetzen. Es wird noch mehr Blut vergossen werden. Dieses Heilige Land wird ein Symbol unserer Differenzen bleiben, anstatt ein Symbol für unsere gemeinsame Menschlichkeit zu werden.

Ich weigere mich, diese Zukunft zu akzeptieren. Wir alle müssen uns entscheiden. Jeder von uns muss den Pfad des Friedens wählen. Natürlich beginnt diese Verantwortung bei den beteiligten Parteien, die auf den Ruf der Geschichte reagieren müssen. Anfang dieses Monats im Weißen Haus war ich von den Worten der israelischen und der palästinensischen Führung beeindruckt. Ministerpräsident Netanjahu sagte: „Ich bin heute hierher gekommen, um einen historischen Kompromiss einzugehen, der beiden Völkern ermöglicht, in Frieden, Sicherheit und Würde zu leben.“ Und Präsident Abbas sagte: „Wir werden nichts unversucht lassen und hart und unermüdlich arbeiten um sicherzustellen, dass diese Verhandlungen ihr Ziel erreichen.“

Diesen Worten müssen nun Taten folgen und ich glaube, dass beide Politiker auch den Mut dazu haben. Der Weg, den sie gemeinsam gehen müssen, ist aber äußerst steinig. Daher fordere ich Israelis und Palästinenser – und die ganze Welt – dazu auf, das Ziel dieser beiden Politiker zu unterstützen. Wir wissen, dass dieses Vorhaben immer wieder auf die Probe gestellt werden wird und dass eine dieser Prüfungen schnell näher kommt. Der Stopp des Siedlungsbaus durch Israel hat vor Ort etwas verändert und die Atmosphäre für Gespräche verbessert.

Unsere Position dazu ist weithin bekannt. Wir sind der Auffassung, dass das Moratorium verlängert werden sollte. Wir sind ebenfalls davon überzeugt, dass die Gespräche so lange fortgesetzt werden sollten, bis sie abgeschlossen sind. Es ist für beide Parteien an der Zeit, einander zu helfen, dieses Hindernis zu überwinden. Es ist an der Zeit, das Vertrauen aufzubauen – und Zeit dafür zu lassen – wesentliche Fortschritte zu erzielen. Es ist an der Zeit, diese Chance zu nutzen, damit sie uns nicht entgeht.

Es sind Israelis und Palästinenser, die den Frieden schaffen müssen, aber jeder einzelne von uns hat die Aufgabe, seinen Teil dazu beizutragen. Die Freunde Israels müssen verstehen, dass echte Sicherheit für den jüdischen Staat ein unabhängiges Palästina erfordert – eines, das den Palästinensern ein Leben in Würde ermöglicht und ihnen Chancen eröffnet. Die Freunde der Palästinenser wiederum müssen verstehen, dass die Rechte der palästinensischen Bevölkerung nur mit friedlichen Mitteln erlangt werden können – dazu zählt auch die ernsthafte Versöhnung mit einem israelischen Staat, der in Sicherheit existiert.

Ich weiß, dass sich viele in diesem Saal zu den Freunden der Palästinenser zählen. Diesen Freundschaftsbekundungen müssen aber nun Taten folgen. Jene, die die arabische Friedensinitiative unterzeichnet haben, sollten die Gelegenheit nutzen und sie verwirklichen, indem spürbare Schritte hin zu der Normalisierung unternommen werden, die Israel darin versprochen wird.

Jene, die sich für eine palästinensische Selbstverwaltung aussprechen, sollten die palästinensische Autonomiebehörde politisch und finanziell unterstützen und damit auch den Palästinensern helfen, ihre staatlichen Institutionen aufzubauen.

Auch müssen diejenigen, die sich nach einem unabhängigen Palästina sehnen, aufhören zu versuchen, Israel zu vernichten. Nach Tausenden von Jahren sind Juden und Araber nicht mehr fremd in einem fremden Land. Nach 60 Jahren in der Völkergemeinschaft darf das Existenzrecht Israels nicht mehr Gegenstand der Diskussion sein.

... und ein Abkommen im nächsten Jahr

Israel ist ein souveräner Staat und die historische Heimat des jüdischen Volkes. Es sollte allen bewusst sein, dass jeder Versuch, Israels Legitimität zu untergraben, auf den unerschütterlichen Widerstand der Vereinigten Staaten stoßen wird. Mit Versuchen, Israelis zu bedrohen oder zu töten, ist den Palästinensern nicht geholfen. Das Ermorden unschuldiger Israelis ist kein Widerstand – es ist Unrecht. Täuschen Sie sich nicht: Der Mut eines Mannes wie Präsident Abbas, der sich unter sehr schwierigen Umständen vor der gesamten Welt für seine Bürger einsetzt, ist weitaus größer als der Mut derer, die Raketen auf unschuldige Frauen und Kinder abfeuern.

Der Konflikt zwischen Israelis und Arabern ist so alt wie diese Institution. Wir können uns natürlich nächstes Jahr wieder hier treffen und, wie wir es in den letzten 60 Jahren getan haben, lange Reden darüber halten. Wir können die bekannten Klagelisten verlesen. Wir können die immergleichen Resolutionen einbringen. Wir können den Kräften der Ablehnung und des Hasses noch mehr Macht geben. Und wir können noch mehr Zeit damit verschwenden, einen Streit fortzusetzen, der keinem einzigen israelischen oder palästinensischen Kind helfen wird, ein besseres Leben zu führen. Das können wir machen.

Oder wir können sagen, dass es dieses Mal anders sein wird – dass wir es dem Terror, den Turbulenzen, der Profilierung und der kleingeistigen Politik dieses Mal nicht erlauben werden, uns im Weg zu stehen. Dieses Mal werden wir nicht an uns denken, sondern an das junge Mädchen in Gaza, deren Träumen keine Grenzen gesetzt sein sollen, oder an den kleinen Jungen in Sderot, der ohne Albträume von Raketenfeuer schlafen möchte.

Dieses Mal sollten wir uns von den Lehren der Toleranz leiten lassen, die den drei großen Religionen zugrunde liegen, die die Erde Jerusalems als heilig betrachten. Dieses Mal sollten wir das Beste aus uns herausholen. Wenn wir das tun, können wir hier im nächsten Jahr ein Abkommen vorlegen, das den Vereinten Nationen ein neues Mitglied bringen wird – einen unabhängigen, souveränen Staat Palästina, der mit Israel in Frieden lebt.

Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der ganzen Welt

Es ist unser Schicksal, die Last der Herausforderungen zu tragen, die ich erwähnt habe – Rezession, Krieg und Konflikt. Und meistens ist unser außenpolitisches Handeln von einem Gefühl der Dringlichkeit – fast schon der Krise - bestimmt. Tatsächlich spiegelt eben diese Institution nach Jahrtausenden, die von Kriegen geprägt waren, den Wunsch der Menschen nach einem Forum wider, in dem die unweigerlich auftretenden unerwarteten Ereignisse erörtert werden können.

Aber auch während wir aktuelle Herausforderungen angehen, müssen wir die Weitsicht haben, über sie hinaus zu blicken und bedenken, was wir auf lange Sicht aufbauen möchten. Welche Welt erwartet uns, wenn die Kämpfe von heute ausgefochten und beendet sind? Darüber möchte ich in der mir heute verbleibenden Zeit sprechen.

Eine der ersten Maßnahmen dieser Generalversammlung war 1948 die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie beginnt mit der Aussage, dass die „gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden.“

Der Gedanke hinter diesen Worten ist einfach: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für die Welt müssen mit Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden des Einzelnen beginnen. Für die Vereinigten Staaten ist dies sogar eine moralische und pragmatische Notwendigkeit. Robert Kennedy sagte: „Der einzelne Mensch, das Kind Gottes, ist der Prüfstein des Wertes, und die ganze Gesellschaft, die Gruppen, der Staat, existieren zu seinem Guten.“ Wir setzen uns also für universelle Werte ein, weil es richtig ist. Aus Erfahrung wissen wir allerdings auch, dass diejenigen, die diese Werte für ihre Bürger verteidigen, unsere engsten Freunde und Verbündeten sind, während diejenigen, die diese Rechte verweigern - seien es terroristische Vereinigungen oder tyrannische Regierungen - sich entschieden haben, unsere Gegner zu sein.

Die Menschenrechte wurden nie uneingeschränkt akzeptiert – in keinem Land der Welt. Tyrannei gibt es noch – unabhängig davon, ob sie sich in den Taliban manifestiert, die Mädchen ermorden, die die Schule besuchen wollen, im nordkoreanischen Regime, das die eigenen Bürger versklavt oder in einer bewaffneten Gruppe in Kinshasa im Kongo, die Vergewaltigung als Kriegswaffe einsetzt.

Auch in Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit kann es Anlass zur Sorge um die Menschenrechte geben. Heute, wie auch in vergangenen Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs, werden die Menschenrechte immer wieder um des Versprechens kurzfristiger Stabilität willen oder aufgrund der falschen Vorstellung, es könne Wirtschaftswachstum zum Preis der Freiheit geben. Wir sehen, wie führende Politiker die Begrenzung von Amtszeiten abschaffen. Wir sehen, wie gegen die Zivilgesellschaft vorgegangen wird. Wir sehen, wie Unternehmertum und gute Regierungsführung durch Korruption erstickt werden. Wir sehen, wie demokratische Reformen für unbestimmte Zeit aufgeschoben werden.

Im vergangenen Jahr habe ich gesagt, dass jedes Land den Weg verfolgen wird, der tief in der Kultur seines Volkes verwurzelt ist. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Geschichte auf der Seite der Freiheit steht, dass das stärkste Fundament des menschlichen Fortschritts in offenen Volkswirtschaften, offenen Gesellschaften und offenen Regierungen liegt. Einfach ausgedrückt ist die Demokratie gut für unsere Bürger, besser als jede andere Regierungsform. Ich bin der Meinung, dass die Wahrheit nur in einer Welt stärker werden kann, in der die Grenzen zwischen den Ländern unscharf sind.

Die Vereinigten Staaten bemühen sich, eine Welt zu gestalten, die diese Offenheit fördert, denn die Fäulnis einer geschlossenen oder korrupten Wirtschaft darf niemals die Energie und Innovationskraft der Menschen in den Schatten stellen. Wir alle möchten das Recht haben, unseren Kindern Bildung angedeihen zu lassen, ein angemessenes Gehalt zu verdienen, uns um die Kranken kümmern zu können und so weit getragen zu werden, wie unsere Träume und Taten reichen. Aber dazu müssen unsere Volkswirtschaften die Kraft ihrer Bürger nutzen – einschließlich des Potenzials von Frauen und Mädchen. Dazu müssen Unternehmer eine Firma gründen können, ohne Schmiergeld zu zahlen, und Regierungen müssen Chancen bieten, statt ihre Bürger zu bestehlen. Dazu muss harte Arbeit und nicht rücksichtslose Risikobereitschaft belohnt werden.

Gestern habe ich eine neue Entwicklungspolitik vorgestellt, die diese Ziele verfolgt. Sie erkennt an, dass Würde ein Menschenrecht ist und globale Entwicklung in unserem gemeinsamen Interesse liegt. Die Vereinigten Staaten werden sich mit Ländern zusammentun, die ihren Bürgern einen Weg aus der Armut bieten. Gemeinsam müssen wir ein Wachstum schaffen, das von einzelnen Menschen und aufstrebenden Märkten auf aller Welt angetrieben wird.

Es gibt keinen Grund, weshalb Afrika keine landwirtschaftlichen Erzeugnisse exportieren sollte, und deshalb stärkt unsere Initiative zur Nahrungsmittelsicherheit die Landwirte. Es gibt keinen Grund, weshalb Unternehmer nicht in jeder Gesellschaft neue Märkte aufbauen sollten, und darum habe ich im Frühjahr einen Unternehmergipfel veranstaltet, denn Regierungen müssen den Einzelnen stärken, anstatt ihn zu behindern.

"Die Zivilgesellschaft ist das Gewissen unserer Gemeinden"

Das Gleiche gilt für die Zivilgesellschaft. Der Bogen des menschlichen Fortschritts wurde von Individuen gestaltet, die die Freiheit hatten, sich zu versammeln, und von Organisationen außerhalb der Regierung, die auf demokratischem Wandel bestanden, sowie von freien Medien, die die Mächtigen zur Rechenschaft zogen. Wir haben dies bei den Südafrikanern gesehen, die sich gegen die Apartheid auflehnten, bei den Polen der Solidarnosc, bei den Müttern der Verschwundenen, die sich gegen den Schmutzigen Krieg ausgesprochen hatten, sowie bei den Amerikanern, die für die Rechte aller Rassen auf die Straße gingen, einschließlich der meinen.

Die Zivilgesellschaft ist das Gewissen unserer Gemeinden, und die Vereinigten Staaten werden immer über die Regierung hinaus Kontakte zu Bürgern im Ausland pflegen. Wir werden diejenigen beim Namen nennen, die Ideen unterdrücken, und die Stimme für diejenigen erheben, die keine Stimme haben. Wir werden neue Kommunikationsinstrumente fördern, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, miteinander Kontakt aufzunehmen und dies in unterdrückerischen Gesellschaften in Sicherheit tun zu können. Wir werden ein freies und offenes Internet unterstützen, damit die Menschen die Informationen erhalten, die sie benötigen, um eigene Entscheidungen zu treffen. Es ist an der Zeit, Normen zu akzeptieren und effektiv zu überwachen, die die Rechte der Zivilgesellschaft stärken und ihre Ausdehnung innerhalb von Grenzen und über Grenzen hinweg garantieren.

Eine offene Gesellschaft unterstützt eine offene Regierung, kann sie aber nicht ersetzen. Es gibt kein grundlegenderes Recht als die Möglichkeit, die eigene Führung zu wählen und über das eigene Schicksal zu bestimmen. Täuschen Sie sich nicht: Letztlich wird sich die Demokratie auf der Welt nicht deshalb behaupten, weil die Vereinigten Staaten es anordnen, sondern, weil einzelne Bürger mitentscheiden wollen, wie sie regiert werden.

Es gibt keinen Boden, in dem diese Vorstellung nicht Wurzeln schlagen könnte, und jede Demokratie spiegelt die Einzigartigkeit eines Landes wider. Im Herbst werde ich nach Asien reisen. Ich werde auch Indien besuchen, ein Land, das sich friedlich vom Kolonialismus befreit hat und zu einer florierenden Demokratie von über einer Milliarde Menschen geworden ist.

Ich werde dann nach Indonesien weiterreisen, das größte Land der Welt mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung. Tausende von Inseln dieses Landes werden durch eine repräsentative Regierung und Zivilgesellschaft zusammengehalten. Ich werde am G20-Treffen auf der koreanischen Halbinsel teilnehmen. Hier wird der Kontrast zwischen einer dynamischen, offenen und freien Gesellschaft und einer eingeengten und geschlossenen Gesellschaft weltweit am deutlichsten sichtbar. Ich werde meine Reise in Japan beenden, einer alten Kultur, die durch Demokratie zum Frieden fand und eine außergewöhnliche Entwicklung erlebte.

Jedes dieser Länder erfüllt die demokratischen Grundsätze auf seine Weise mit Leben. Und selbst wenn einige Regierungen bei Reformen zurückrudern, feiern wir doch auch den Mut eines Präsidenten in Kolumbien, der bereitwillig abtrat, oder das Versprechen einer neuen Verfassung in Kenia.

Der rote Faden des Fortschritts ist der Grundsatz, dass die Regierung den Bürgern gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Die Vielfalt in diesem Saal zeigt ganz deutlich – kein Land hat Antworten auf alles, aber wir alle müssen uns vor unseren Bürgern verantworten.

In allen Teilen der Welt sehen wir das Versprechen der Innovation, das Regierungen offener und rechenschaftspflichtiger machen soll. Nun müssen wir auf diesem Erfolg aufbauen. Wenn wir nächstes Jahr hier wieder zusammenkommen, sollten wir konkrete Zusagen zur Förderung von Transparenz mitbringen, zur Bekämpfung von Korruption, zur Belebung des zivilen Engagements, zur Unterstützung neuer Technologien, so dass wir die Grundlagen der Freiheit in unseren Ländern stärken, während wir gleichzeitig den Idealen gerecht werden, die die Welt heller machen können.

Diese Institution kann bei der Förderung der Menschenrechte noch immer eine unverzichtbare Rolle übernehmen. Es ist Zeit, die Bestrebungen von U.N. Women zum Schutz der Rechte von Frauen weltweit zu begrüßen.

Es ist Zeit, dass alle Mitgliedstaaten ihre Wahlen für internationale Beobachter öffnen und mehr in den UN-Demokratiefonds einzahlen. Es ist Zeit, die Friedensmissionen der Vereinten Nationen wiederzubeleben, so dass die Missionen über die nötigen Mittel verfügen, um erfolgreich zu sein, Grausamkeiten wie sexuelle Gewalt verhindert werden und das Recht durchgesetzt wird, denn ohne grundlegende Sicherheit gibt es weder Würde noch Demokratie.

"Sehen Sie nicht tatenlos zu, schweigen Sie nicht ..."

Es ist auch an der Zeit, diese Institution noch stärker zu verpflichten, Rechenschaft abzulegen, denn die Herausforderungen eines neuen Jahrhunderts erfordern neue Wege, unseren gemeinsamen Interessen zu dienen.

Die Vereinigten Staaten können die Welt, die sie sich wünschen, nicht allein aufbauen. Damit Menschenrechte zu denjenigen vordringen, die unter Unterdrückung leiden, müssen Sie Ihre Stimme erheben. Ich appelliere insbesondere an die Länder, die sich von der Tyrannei befreit und die Welt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts inspiriert haben – von Südafrika bis Südasien, von Osteuropa bis Südamerika. Sehen Sie nicht tatenlos zu, schweigen Sie nicht, wenn Dissidenten andernorts inhaftiert und Demonstranten geschlagen werden. Erinnern Sie sich an Ihre eigene Geschichte. Denn unsere Freiheit ist zu einem Teil davon abhängig, dass wir uns für die Freiheit anderer einsetzen.

Diese Überzeugung wird die Führung der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert leiten. Es ist eine Überzeugung, die uns mehr als zwei Jahrhunderte lang über Krisenzeiten hinweggeholfen hat und uns auch bei der Überwindung der heutigen Herausforderungen helfen wird – seien es Krieg, Rezession, Konflikt oder Spaltung.

Auch wenn wir also ein schwieriges Jahrzehnt hinter uns haben, blicke ich heute doch zuversichtlich in die Zukunft – eine Zukunft, in der der Irak weder von einem Tyrannen noch von einer ausländischen Macht regiert wird, in der Afghanistan vom Aufruhr des Krieges befreit ist, eine Zukunft, in der die Kinder Israels und Palästinas den Frieden schaffen können, der ihren Eltern nicht vergönnt war, eine Welt, in der das Versprechen der Entwicklung bis in die Gefängnisse der Armut und Krankheit reicht, eine Zukunft, in der die Wolke der Rezession dem Licht der Erneuerung und dem Traum von Chancen für alle weicht.

Es wird nicht einfach sein, diese Zukunft zu erreichen. Es wird Rückschläge geben, und es wird nicht schnell gehen. Aber schon die Gründung der Vereinten Nationen an sich ist ein Beweis für den menschlichen Fortschritt. Denken Sie an die weitaus schwierigeren Zeiten, als unsere Vorgänger die Hoffnung auf Einheit vor die Bequemlichkeit der Teilung gestellt haben und zukünftigen Generationen versprachen, dass Würde und Gleichberechtigung der Menschen unser gemeinsames Ziel sein würden.

Es ist an uns, dieses Versprechen zu erfüllen. Obwohl dunkle Kräfte unsere Entschlossenheit auf die Probe stellen werden, haben wir Amerikaner immer Grund gehabt zu glauben, dass wir uns für eine bessere Geschichte entscheiden können, dass wir nur über die uns umgebenden Mauern hinausblicken müssen. Denn die Menschen jeder erdenklichen Herkunft, die diese Stadt zu ihrer Heimat machen, sind der lebende Beweis dafür, dass Chancen von allen genutzt werden können, dass das, was uns als Menschen vereint wesentlich bedeutender ist als das, was uns trennt, und dass Menschen aus allen Teilen dieser Welt in Frieden zusammenleben können.

Vielen herzlichen Dank.

Originaltext: Remarks by the President to the United Nations General Assembly siehe: http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2010/09/23/remarks-president-united-nations-general-assembly

Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://amerikadienst.usembassy.de/



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