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Wall Street im ganzen Land

Trotz Festnahmen weiten sich Sozialproteste in den USA aus *


Die Repression der New Yorker Polizei schwächt »Occupy Wall Street« nicht. Im Gegenteil: Nach hunderten Festnahmen am Sonnabend (1. Okt.) finden in immer mehr Städten Demonstrationen statt.

Die Bewegung »Occupy Wall Street« (Besetzt die Wall Street) steht noch am Anfang. Erst am 17. September begannen Menschen im Zuccotti-Park in New Yorks Nobelbezirk Manhattan zu kampieren. Bis jetzt ist die Zahl der Protestierer auf ein paar Tausend gestiegen. Doch mit jeder weiteren Aktion, die von der Polizei mit massiver Repression beantwortet wird, wächst die Bewegung gegen die Börse und die Banken.

Bei einer Demonstration auf der Brooklyn Bridge am Sonnabend nahm die Polizei nach eigenen Angaben 700 Menschen fest. Sie hätten den Verkehr lahmgelegt. Viele von ihnen müssten mit Verfahren wegen Ruhestörung rechnen. Mehrere der insgesamt 1500 Teilnehmer gehen jedoch davon aus, dass sie von den Polizeibeamten in eine Falle gelockt wurden. Die Polizisten hätten die Menge auf die Fahrbahn geleitet. Personen, die nur auf dem Fußweg liefen, blieben unbehelligt. Die meisten Festgenommenen kamen nach mehreren Stunden wieder frei.

Die vorwiegend jungen Demonstranten unterschiedlicher Herkunft lassen sich von diesen Maßnahmen nicht einschüchtern. Bereits am Sonntag gingen erneut 800 Personen in dem Wirtschaftsviertel auf die Straßen. Und auch über die Stadtgrenze hinaus gewinnt die Protestbewegung an Aufmerksamkeit und Sympathie. In Boston demonstrierten 3000 Menschen vor der Bank of America. Auch in Los Angeles, Albuquerque, New Mexiko, San Francisco und Chicago gab es am Wochenende »Occupy«-Proteste.

Die Bewegung ist über die Internetseite occupywallst.org vernetzt. Dort erklären die »99 Prozent«, dass sie die Gier und Korruption des einen Prozents, das alles besitze, nicht länger hinnehmen. Die Kritik richtet sich vor allem gegen wachsende soziale Ungleichheit und Zwangsversteigerungen von Eigenheimen. Der Unmut richtet sich inzwischen aber auch gegen das Vorgehen der New Yorker Polizei.

Unterstützung erfährt die Bewegung von Prominenten. Nach Filmemacher Michael Moore und Bürgerrechtler Cornel West sprach der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz am Sonnabend zu den Demonstranten.

»Occupy Wall Street« kündigt nun für Mittwochnachmittag einen neuen Protestmarsch an. Eine erste geplante symbolische Besetzung der Wall Street vor zwei Wochen hatte die Polizei mit einem massiven Aufgebot verhindert.

* Aus: neues deutschland, 4. Oktober 2011


Wall Street bleibt besetzt

Von Philipp Schläger, New York **

Der Protest gegen die wachsende Kluft zwischen arm und reich, die hohe Arbeitslosigkeit und die Profiteure der Krise in den USA wächst. In New York solidarisierten sich am Wochenende mehrere Gewerkschaften der Stadt sowie Tausende Bürger mit den Aktivisten von »Occupy Wall Street« (Besetzt Wall Street), die seit mehr als zwei Wochen erfolgreich Regen und fallenden Temperaturen trotzen und einen Platz im Finanzdistrikt Manhattans, den Zuccotti-Park, besetzt halten.

Nach mehreren Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern Ende der vergangenen Woche kam es am Samstag erneut zu Massenverhaftungen. Bei einem Marsch auf der Brooklyn Bridge setzte die Polizei zeitweise bis zu 700 Menschen fest. Unter diesen war auch eine Reporterin der New York Times. Nachdem die Demonstranten im Süden vom Rathaus Richtung Brooklyn Bridge gelaufen seien, habe die Polizei einen Teil der Demonstranten anstatt auf den Fußweg regelrecht auf die Straße der Brücke dirigiert, berichtete Andrew Flinchbaugh, der bereits seit mehr als einer Woche an dem Protest im Zuccotti-Park teilnimmt.

Grundsätzlich müssen in New York Demonstrationsteilnehmer auf dem Bürgersteig bleiben, eine Regel, die die Polizei im Zusammenhang mit den Protesten von »Occupy Wall Street« bislang rigoros durchgesetzt hat. Mit Verweis auf die Behinderung des Verkehrs riskiert jeder, der auf die Straße ausweicht, eine Festnahme. Die Polizei habe den Zug von rund 1800 Menschen zunächst rund 30 Minuten lang etwa bis zur Mitte der Brücke laufen lassen, sagte Flinchbaugh. Erst dann habe sie begonnen, den Demonstranten den Weg zu versperren und orange Netze auszurollen, die sie auch bei Verhaftungen in der Vorwoche verwendet hatte, so der Arbeitslose aus New Jersey.

Die Polizisten hätten dann begonnen, einzelne ziehen zu lassen und andere festzunehmen, um am Ende insgesamt rund 700 Menschen zu verhaften. »Es war nach meiner Einschätzung eine Falle. Anders kann ich dieses Vorgehen nicht beschreiben«, erläutert Flinchbaugh.

Die Polizei begründete die Festnahmen mit der Behinderung des Verkehrs auf der Brücke. Demonstranten mußten mit auf den Rücken gefesselten Händen stundenlang entlang der Brücke sitzen, um am Ende zum Polizeirevier abtransportiert zu werden.

Alles deutet darauf hin, daß das aggressive Vorgehen der Polizei die Aufmerksamkeit und die Sympathien für die Besetzung nur weiter erhöht. Einen Tag nach den Verhaftungen kamen mehr als tausend Menschen zum Zuccotti-Park, wo normalerweise rund 100 bis 200 Aktivisten in Schlafsäcken und unter Planen übernachten. Außerdem kam es in mindestens 20 weiteren US-Städten, unter anderem in Chicago und Los Angeles, ebenfalls zu Protestaktionen. In Boston versammelten sich Demonstranten vor einer Niederlassung der Bank of America, um gegen Zwangsversteigerungen zu protestieren.

Inzwischen haben sich zudem zahlreiche Gewerkschaften mit den Demonstranten vom Zuccotti-Park zusammengeschlossen. Darunter ist etwa die United Federation of Teachers, die Transport Workers Union und die Communications Workers of America, die derzeit angespannte Verhandlungen für 45000 Beschäftigte des Telekommunikationskonzerns Verizon führt, deren Forderungen von »Occupy Wall Street« unterstützt werden. Ein Ende der Aktion ist damit weiterhin nicht absehbar. Für Mittwoch haben die Aktivisten zusammen mit den Gewerkschaften und linken Organisationen wie moveon.org zu einer gemeinsamen Demonstration in New York aufgerufen.

** Aus: junge Welt, 4. Oktober 2011


Klassenkampf in Wall Street

Von Olaf Standke ***

Am Anfang wurden sie meist noch belächelt, die jungen Leute, die den Klassenkampf in die Wall Street brachten. Zwei Wochen und 700 Verhaftete später ist ihnen die landesweite Aufmerksamkeit gewiss. Am Wochenende legten sie die Brooklyn Bridge in New York stundenlang lahm und protestierten gegen die hohe Arbeitslosigkeit und die Milliardenhilfen für jene Banken, die die Finanzkrise erst verursacht haben. Selbst ihre Enteignung wird gefordert. Inzwischen schicken Fernsehstationen Übertragungswagen, Prominente wie die Schauspielerin Susan Sarandon oder der Filmemacher Michael Moore solidarisieren sich, und so mancher fühlt sich an den Kairoer Tahrir-Platz erinnert.

Nun stehen die USA nicht vor einem Umsturz, aber die Unzufriedenheit mit einem als ungerecht und unverantwortlich kritisierten System wächst. Auch in Boston, Los Angeles, Chicago und anderen Städten gab es Protestaktionen, Gewerkschaften wollen sich in dieser Woche anschließen. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sprach im New Yorker Lager der Aktivisten vom »Krieg gegen die Mittelklasse« in den USA und forderte ein faires Steuersystem, das die Reichen und die Banken in »Gottes eigenem Land« nicht mehr bevorzugt. Auch jenseits des auf über 46 Millionen Bürger angewachsenen Heeres der offiziell Armen geht längst die Sorge vorm sozialen Abstieg um. Und Stiglitz weitet den Blick auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, wenn er dazu aufruft, endlich »unsere Demokratie zu demokratisieren«.

*** Aus: neues deutschland, 4. Oktober 2011 (Kommentar)


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