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Droht mit der US-Militärplanung NPR eine "atomare Rüstungsspirale"?

Die "Nationale Sicherheitsstrategie" der USA und die "Gefühlslage" der Europäer

Von Ellen Weber*

Was sind defensive Offensivschläge?

Die Nachricht fand man eher beiläufig: Der amerikanische Außenminister Colin Powell sei zufrieden vom Außenministertreffen der G8 nach Washington zurück gekehrt. "Die Kollegen, darunter der Deutsche, hätten mit der sich herausschälenden Erstschlagsdoktrin der USA kein Problem. Bei dem zweitägigen Treffen in Kanada sei er auf das Thema jedenfalls nicht angesprochen worden." Die Frankfurter Rundschau, die diese Nachricht in einem Kommentar transportierte, folgerte: "Aus amerikanischer Sicht ist die Sache damit durch." Es ist zu befürchten, dass sie damit Recht hat.

Die so genannte "Sache" ist der präventive atomare Erstschlag gegen die neuen von den USA ausgemachten Feinde. Mit dem Argument des "Kampfes gegen den Terrorismus" getarnt, hebt die Regierung der USA eine neue "Nationale Sicherheitsstrategie" aus der Taufe. Sie nennt sie "Defensive Intervention". Diese Strategie hat Bush zum ersten Mal am 1. Juni diesen Jahres in einer Ansprache an der Militärakademie West Point öffentlich erwähnt. Verabschiedet werden soll sie im Herbst.

"Die defensive Intervention durch gezielte Offensivschläge, auch mit Nuklearwaffen, ist eine Anwendung des alten Leitsatzes, wonach Angriff die beste Verteidigung ist", stellt die "FAZ" am 19. Juni fest. "Die nuklearen Streitkräfte, deren Bewaffnung und Organisation durch neue Waffen, Informations- und Organisationssysteme modernisiert werden sollen, rücken damit in die erste Reihe einer weit ausgreifend konzipierten offensiven Vorwärtsverteidigung Nordamerikas." (ebenda) Wie hieß es doch bei Colin Powell - die Kollegen, darunter der Deutsche, - hätten mit der Erstschlagsdoktrin der USA keine Probleme.

Die große Koalition der Atomwaffenbefürworter

Übrigens, auch Edmund Stoiber bezieht sich positiv auf die präventive Erstschlagsdoktrin der USA. Auch er will die Rolle der Atomwaffen im Sicherheitskonzept neu überdenken und fordert eine strategische Neuausrichtung der NATO und ein neues Konzept für die Atomwaffen im Bündnis. Stoiber will im Falle des Wahlsieges der CDU/CSU den Wehretat deutlich erhöhen und die Bundeswehr auch für den Einsatz im Innern der Republik bereitstellen. (FR 6. Juli) Es gibt sie also, die große Koalition der Atomwaffenbefürworter.

Was da von den USA vorbereitet wird, sind nukleare Entwaffnungsschläge, die einen erkannten oder vermuteten Feind niederwerfen, seine Angriffspotenziale vernichten oder auch den Sturz einer gegnerischen Regierung durchsetzen sollen. Bush hat am 1. Juni in seiner Rede in West Point betont: "Wenn wir warten, bis sich die Bedrohungen voll materialisiert haben, haben wir zu lange gewartet." (FAZ, 3. Juni) Er verteidigte ausdrücklich seine Erfindung der "Achse des Bösen", die er zuvor auch in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag erneut ins Spiel gebracht hatte. Er hämmerte seinen Zuhörern auf der Militärakademie ein, dass Amerika im "Krieg" sei und diese Nation entschlossen sein müsse zu handeln. "Wir müssen den Kampf zum Feind bringen, seine Pläne durchkreuzen und die schlimmsten Bedrohungen konfrontieren, bevor sie entstehen." (ebenda)

Auf welchen Kriegsschauplätzen nach Afghanistan die in Vorbereitung befindlichen "Interventionen" stattfinden sollen, ist kein Geheimnis. Immer wieder genannt werden von der US-Administration die so bezeichneten "Schurkenstaaten" Irak, Iran und Nordkorea. Deren jetzige Nennung im Rahmen der "nationalen Sicherheitsstrategie" darf nicht vergessen lassen, dass China, Syrien, Libyen, Russland und Pakistan schon auf der Liste stehen, seit die US-Regierung im Februar diesen Jahres ihre Militärplanung der veränderten Weltlage anpasste.

Ein zunächst geheimer Bericht enthielt die Überprüfung der Haltung zur Atomwaffenpolitik (Nuclear Posture Review - NPR). Mit diesem Papier wurde eine neue Bedrohungsanalyse vorgelegt. Die US-Regierung wandte sich von den Gleichgewichtsszenarien des Kalten Krieges ab, bei denen von der Ebenbürtigkeit der USA und der Sowjetunion ausgegangen worden war. Trotz der Atomwaffenpotenziale Russlands wird die Situation heute als völlig verändert bewertet. Militärberater der amerikanischen Armee wie der texanische Politologe George Friedman betonen, dass die USA nicht sicher seien, "ob das Nuklearmaterial Russlands tatsächlich unter der Kontrolle von Präsident Putin ist". (ND, 12. April)

Zur Argumentationskette gehört in der perversen Logik der US-Militärplaner, dass frei schwebendes Nuklearmaterial in Russland von Al-Quaida-Zellen aufgegriffen und transportiert werden könnte. Um solche Gefahren abzuwehren, sei präventives Eingreifen unter Umständen nötig. Dort, "wo die USA nicht sicher sind, ob das Nuklearmaterial tatsächlich in sicherer Hand der Regierung ist, dort werden wir im Zweifelsfall angreifen". (ebenda)

Die jetzige Militärplanung (NPR), wie sie im Bericht über die Haltung zur Atomwaffenpolitik dargelegt wurde, hat weitreichende Folgen für die Entwicklung neuer Waffentechnologien im Nuklearbereich, (Sprengköpfe für unterirdische Bunker, Neuaufnahme von Atomwaffentests, Mini-Nukes, Raketenabwehrsysteme etc.)

Presseinformationen zu dieser atomaren Rüstungsoffensive weisen auf die lebensbedrohenden Quellen radioaktiven Staubes hin, der bei den Einschlagskratern der Bunker brechenden Waffen entsteht. Die neuen Waffengenerationen sollen eine hohe Flexibilität der US-Armee ermöglichen. Weltweit geht es für die US-Administration um die Durchsetzung der Vorherrschaft - ökonomisch, politisch, geostrategisch und militärisch. Prävention - auch mit Atomwaffen.

Dass die nuklearen Einsatzpläne künftig auch gegen Staaten gerichtet sein können, die selbst keine Atomwaffen besitzen, ist ebenso Bestandteil der neuen Militärplanung wie die bewusst von den USA in Kauf genommene Tatsache, dass die neue Nuklearpolitik vom Völkerrecht nicht gedeckt ist. Mit den neu formulierten und erfundenen "Kriegsgründen" (Terrorismus, Schurkenstaaten - und solche, die es werden können) erlauben sich die USA eine Strategie, die im präventiven Ersteinsatz von Atomwaffen gipfelt.

"Absolute Beweise" nicht unbedingt erforderlich

Die Ungeheuerlichkeit dieser Entwicklung wird erst in Ansätzen von der Öffentlichkeit in unserem Land begriffen. Friedensforscher (siehe Friedensgutachten 2002) und kritische Kommentatoren in unterschiedlichen Zeitungen tasten sich durch das neue Labyrinth der Gefahren. Enthüllende Originalreden von George Bush erscheinen - wenn überhaupt - in gekürzten Fassungen - so als hätte man Furcht, das ganze Ausmaß dieser immer unberechenbareren US-Politik auszusprechen und vor der Öffentlichkeit darzustellen. Umstritten sei - so kann man lesen -, "inwieweit die USA bei möglichen Präventivschlägen eine Erklärung schulden. Im Pentagon hält man ´absolute Beweise´, dass die vorbeugend auszulöschende Gefahr tatsächlich existiert, nicht unbedingt für erforderlich", und weiter: "Offenkundig glaubt Washington, sich nicht erst irgendwo ein Mandat für Erstschläge holen zu müssen." Die Begründung ist verblüffend: "Weil defensive Interventionen dem Schutz der eigenen Bevölkerung dienen, ist die eigene Verfassung der Regierung Vollmacht genug." (FR, 17. Juni, S. 3)

Keine Rücksicht auf Gefühlslage der Europäer

Man kann diese Haltung auch noch zugespitzter haben: "Meiner Überzeugung nach", sagte der texanische Politologe George Friedman, "wird es zu einem simultanen Militärschlag der USA gegen alle Risikostaaten kommen. Dabei wird die US-Regierung auch überhaupt keine Rücksicht auf die Gefühlslage der Europäer nehmen. Wenn die Europäer die USA immer darauf aufmerksam machen, dass sie etwa gerade dabei sind, gute Handelsbeziehungen zu Iran aufzubauen, so wird uns das dann völlig egal sein." (ND, 12. April) Der Mann ist immerhin Gründer und Vorsitzender des Thinktanks Stratfor in Austin (Texas). Er berät unter anderem die US-Armee in strategischen Fragen.

Hier ist nicht Gelegenheit, das Problem der möglichen Widersprüche zwischen USA und Europa darzulegen oder der Frage nachzugehen, ob sie und wie sie produktiv gemacht werden können. Auch dass die Differenzierung - sofern sie denn da ist - Illusionen weckt oder fördert, kann nebenbei nicht schnell mit behandelt werden. Fest steht aber und sollte erwähnt werden, dass die amerikanische Strategie der "Defensiven Intervention" noch nicht die neue strategische Konzeption der NATO ist. Dort ist man noch an den Beschluss des Nordatlantikrates vom April 1999 gebunden. In diesem Beschluss sind die Kernwaffen Waffen des äußersten Notfalles und Waffen der allerletzten Möglichkeit. Dieses Konzept erschien 1999 der am Frieden orientierten Öffentlichkeit schon der Gipfel der Perversion. Kernwaffen seien präsent und sollten präsent bleiben. Das war damals der Skandal.

Wird Europa den Wahnsinn sanktionieren?

Dass die amerikanische Strategie der "Defensiven Intervention" die NATO-Strategie an Gewaltbereitschaft und Gewaltandrohung jetzt weit hinter sich lässt, zeigt das Ausmaß der sich beschleunigenden gefährlichen negativen Entwicklung. Wird die NATO den tödlichen Vorgaben der USA folgen? Wird Europa den Wahnsinn sanktionieren und zufrieden sein, weil Bush Konsultationen vor neuen Militärschlägen zugesagt hat? Es spricht vieles dafür, dass die Beflissenheit der europäischen (und speziell der deutschen) Regierungen wächst, im Schlepptau der USA bleiben zu dürfen. Die "uneingeschränkte Solidarität" mit der US-Politik, die Kanzler Schröder verkündet hat, wird verheerende Folgen haben. Rüstungswettlauf, immense Kosten, soziale Not und Gefahr für unser aller Leben deuten sich an.

Wie sehr die Regierenden bei uns an der Verschleierung der Wahrheit über die amerikanische Atomwaffenstrategie arbeiten und sich immer mehr der Rolle der Mittäter nähern, wurde beim Bush-Besuch in Berlin deutlich. Rund um den Reichstag wurde schon vor der Ankunft des Staatsgastes von einer historische Rede gesprochen, die Bush halten werde. Zur Erinnerung: Die Verkündung der neuen nationalen Sicherheitsstrategie ereignete sich erst am 1. Juni 2002, also eine Woche nach dem Bush- Besuch. Längst Geschichte war aber die Verkündung der "neuen Nuklearstrategie". Diese hatte die amerikanische Administration schon im Februar 2002 vorgestellt. Jeder Bundestagsabgeordnete konnte wissen, dass zum Beispiel der amerikanische Außenminister Powell verkündet hatte, das Pentagon sei beauftragt, zu prüfen ob das gegenwärtige Atomwaffenarsenal "modifiziert, auf den neuesten Stand gebracht oder geändert werden müsse, um aktuellen Bedrohungen gerecht zu werden." (FAZ, 12. März)

Nach den Atombomben hat im Bundestag keiner gefragt

Die ganze Debatte - Achse des Bösen, Hitzedruckbomben, Mini- Atombomben, Liste der Schurkenstaaten ... - lag im Mai bereits drei Monate zurück. Nach dieser abenteuerlichen Militärplanung aber hat Bush niemand aus dem Regierungslager und niemand aus den Reihen der CDU/CSU und FDP gefragt. Wolfgang Thierse, der den Präsidenten im Bundestag begrüßte, bündelte ein paar Sorgen verbunden mit höflichen Hoffnungen, gerichtet an die amerikanische Politik (Internationaler Strafgerichtshof, Klimaschutzabkommen, Koalition gegen die Armut, Maßnahmen gegen eine entfesselte Ökonomie ...). Nach den Atombomben und der neuen Strategie hat niemand gefragt.

Im Gegenteil: Die Lobhudelei nach der Bush-Rede war unerträglich. Stoiber sah wie Schröder eine "große Rede". Merz wollte das militärische Eingreifen im Irak nicht von vornherein ausschließen, so überzeugend und klar sei der Präsident aufgetreten. Die Verbeugungen vor Bush waren quer durch die Parteien fast komplett. Zum Glück gab es dieses Transparent im Bundestag "Mr. Bush und Mr. Schröder stop your wars!" zur Ehrenrettung der parlamentarischen kritischen Öffentlichkeit. Und zum Glück gab es die Großdemonstration in Berlin und das Bushtrommeln vor der Ankunft des US-Präsidenten in zahlreichen Städten der Republik.

Man könnte die Triade der Herrschenden aus Anlass des Bush-Besuchs schon vergessen haben, hätte es nicht bei der Europareise des Präsidenten den Abstecher nach Russland, wo ein Schaulaufen in Sachen atomarer Abrüstung organisiert worden war, gegeben. Wenn es schon in Berlin nicht ganz historisch war, so sollte es doch in Russland "weit in die Zukunft reichen." "Ein Jahrhundert der nuklearen Feindschaft" werde beendet, meinte Bush angesichts eines Vertrages zwischen der USA und Russland in dem es um die Reduzierung nuklearer Gefechtsköpfe um zwei Drittel der Bestände ging. Bleiben sollen jeweils "nur" 1 700 bis 2 200 Atomsprengköpfe. Der Gedanke, dass dies immer noch reicht um die ganze Welt zu vernichten, ist nicht die Hauptsache der Einwände gegen diesen Vertrag. Was als Abrüstungsvertrag daher kommt, hat so wesentliche Mängel, dass seine Bedeutung zweifelhaft erscheint.

Die Sprengköpfe werden nicht vernichtet, sondern nur getrennt gelagert. Es gibt keine Vernichtung oder Verringerung der Trägersysteme. Es sind keine Kontrollen vereinbart und der "Vertrag" ist innerhalb von drei Monaten einseitig kündbar. Und zu allem Überfluss steht Russland auf der Liste der Achse des Bösen. Was Präsident Putin veranlasst hat, diesen Vertrag ebenfalls zu loben, darüber kann nur spekuliert werden. Insgesamt beweist der Umgang mit diesem Vertrag, wieweit Lobhudelei und Unterwürfigkeit gegenüber der Bush-Administration und ihrer Atomwaffenpolitik bestimmend ist.

Atomwaffengefahr muss viel stärker thematisiert werden!

Die demokratische Öffentlichkeit in unserem Land hat im Angesicht des Bush-Besuches in Berlin erste Signale des Widerstandes mit Demonstrationen und einer Großkundgebung gesetzt. Die Atomwaffenfrage hat allerdings damals - auch bei der Berliner Kundgebung - noch keine umfassende Rolle gespielt. Die Jahrestagung des Trägerkreises "Atomwaffen abschaffen" Mitte Juni in Erfurt hat begonnen, das politisch brisante Thema ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Sicher, in jedem Jahr am 6. August hat die Friedensbewegung auf die Gefahren der Atomwaffen hingewiesen und der Opfer der amerikanischen Luftangriffe von Hiroshima und Nagasaki gedacht. Friedensgruppen haben in Büchel an der Mosel auf die noch immer dort lagernden Atomwaffen der US-Armee aufmerksam gemacht. Teilnehmer an diesen Aktionen haben Geldbußen und Haftstrafen in Kauf genommen. Bei den gewerkschaftlichen Friedensmanifestationen am 1. September wurde viele Male auch die Atomkriegsgefahr genannt und behandelt. Der "Krieg der Sterne" und die Raketenabwehrsysteme standen zeitweilig im Mittelpunkt der Diskussion. All dem ist geschuldet, dass die Atomwaffengefahr in den zurück liegenden Jahren präsent blieb. Es gibt also Fundamente, auf denen Widerstand aufgebaut werden kann.

Fest steht allerdings, dass die heute neuen Gefahren und ihre Bekämpfung nicht einfach die Fortschreibung des jahrelang Bekannten sein können. Die "Amerikanische Strategie der Vorherrschaft" bedroht die ganze Menschheit. Der präventive atomare Erstschlag als Instrument für die Durchsetzung dieser Strategie ist kein Phantom, sondern Bestandteil der Politik des amerikanischen Imperialismus. Darauf mit Enthüllung und Widerstand sich einzustellen, ist keine "Spartenarbeit" für die Friedensbewegung, sondern wesentliche Aufgabenstellung für die Fortschrittskräfte der Gesellschaft.

* Dr. Ellen Weber ist Sprecherin des Arbeitskreises Frieden in der DKP. Außerdem arbeitet sie seit Jahren im Bundesausschuss Friedensratschlag mit. Der obige Beitrag ist am 19. Juli 2002 in der UZ veröffentlicht worden.


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